Impuls am Beginn des Pfarrkollegs "Predigttexte an Advent und Weihnachten 2020"

23.11.2020

„Ist Weihnachten noch zu retten?“ Der Spiegel machte am vergangenen Wochenende mit dieser Schlagzeile auf. Und wen wundert‘s: Ich habe mit Neugier reagiert. Und natürlich mit innerem Widerspruch.

Wer soll denn da Weihnachten retten? Die Kanzlerin mit der Runde der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten? Der Bundestag mit dem neuen Infektionsschutzgesetz? Die Querdenker?

Und dann auch: Vor wem soll Weihnachten gerettet werden? Vor dem Corona-Virus? Vor den Virologen? Vor der Ängstlichkeit oder vor der Sorglosigkeit der Menschen?

Was heißt das überhaupt: Weihnachten retten? Wer oder was soll da gerettet werden? Die traditionellen Gottesdienste? Das Festmahl im großen Kreis zu Hause? Die familiären Zusammenkünfte? Der Besuch bei der Oma oder beim Opa im Pflegeheim?

Oder geht’s eher um das Dinner im feinen Lokal? Um den Besuch im Weihnachtszirkus oder im weihnachtlichen Festkonzert? Und natürlich soll gleich auch noch Silvester mit gerettet werden. Vor allem das Feuerwerk, das in einer Nacht soviel Gift in die Luft abgibt wie alle Autos in zwei Monaten.

„Ist Weihnachten noch zu retten?“ Wir sind hier auf alle Fälle ein kleines Rettungsteam! Denn aus Ihrem Kreis wurde ich ermutigt, dieses Pfarrkolleg nicht ausfallen zu lassen. Und zumindest dieses Pfarrkolleg zu retten. Ich bin also auf unsere Rettungsmanöver gespannt.

Dabei gilt am Ende ohnedies: Wir müssen Weihnachten gar nicht retten! Wir können’s wahrscheinlich nicht einmal. Genau umgekehrt wird ein Schuh draus! „Euch ist heute der Retter geboren!“ Das ist doch der Kernsatz der Botschaft der Engel. Es geht also mitnichten darum, dass wir Weihnachten retten.

Weihnachten – oder das, was wir jedes Jahr als Fest der Weihnacht feiern, hat es mit unserer Rettung zu tun. Weihnachten ist ein Rettungsprojekt zugunsten der Menschen. Der Menschen, deren Lebensgrundlage spröde wird und brüchig. Oder einfach nur selbstverständlich. Weihnachten ist ein Fest uns zugut. Ein Projekt des Perspektivwechsels in eingefahrenen Lebensroutinen. Ein Fest zugleich zugunsten der ganzen Schöpfung. Ein Fest uns zugut auch. Den Predigerinnen und Predigern. „Frieden auf Erden allen Menschen guten Willens!“ singen da die Engel. Von Anfang an ist Weihnachten also kein Fest hinter sicheren Kirchenmauern.

Weihnachten – davor gibt es erst noch die Zeit, in der wir uns einüben, diesen anderen Blick zu gewinnen. Die Zeit, in der wir zu erspüren suchen, was da eigentlich auf uns zukommt. Vor Weihnachten kommt die Zeit des Advent! Unverzichtbar ist für mich diese Schleuse zwischen alt und neu. Zwischen Ende und Anfang. Zwischen November-Tristess und Dezember-Jubel. Die von der Idee her stilleren Tage des Advent – ihnen gehört meine besondere Zuneigung. Jedes Jahr von Neuem sehne ich den Advent herbei. Und lasse ihn ungern wieder ziehen. Er ist meinem Leben viel näher als Weihnachten. Weil er in der Gegenwart einsetzt. Und Weihnachten eher die noch ausstehende Zukunft schon einmal vorwegnehmen will.

„Ist Weihnachten noch zu retten?“ Oder sind wir noch zu retten? Wer dieses Jahr Gottesdienste gestaltet, kommt um die Erkenntnis nicht herum: Es geht immer auch irgendwie um Corona. Selbst wenn Sie sich vornehmen, dazu überhaupt nichts zu sagen. Advent und Weihnachten ereignen sich immer mitten in den konkreten Lebensvollzügen der Menschen. Und in diesen Lebensvollzügen hat sich dieses Virus in diesem Jahr 2020 unübersehbar breit gemacht.

Deshalb will ich heute mit ein paar Thesen einsetzen. Thesen des adventlichen und weihnachtlichen Predigens im Corona-Jahr 2020.

1. Der Advent spiegelt den Wunsch nach Veränderung wider. - Ich kann mich nicht erinnern, in den letzten Jahrzehnten einmal eine solche Sehnsucht nach Veränderung wahrgenommen zu haben. Menschen warten sehnlichst und spürbar darauf, dass es ein Ende hat mit allem, was sie derzeit als Einschränkung empfinden. - Adventliches Predigen nimmt diese Sehnsucht auf, richtet den Blick aber nicht darauf, dass alles wieder wird, wie es war, sondern dass Zukunft immer Gottes Zukunft ist. Anders, aber dem Leben zugewandt.

2. Der Advent ist nicht die vorschnelle Erfüllung, sondern die Zeit des Aushaltens und Durchhaltens der Erwartung, dass Gott kommt und alle Masken fallen. Adventliche Feiern sind häufig vorgezogene Weihnachtsfeiern. Der Schmuck in den Häusern wird in jedem Jahr ein wenig früher weihnachtlich. Der Advent kommt mit leisen Tönen und gedämpftem Licht aus. Die Alltagsmaske ist für mich in diesem Jahr deshalb ein adventliches Symbol. Die Sehnsucht geht dahin, sie endgültig loszuwerden. Um von Neuem Gesicht zeigen zu können. – Adventliches Predigen hilft, die Geduld zu nähren. Normal ist, was jetzt ist, nicht was war oder sein könnte. Darum ist der Advent die Kirchenjahreszeit, in der sich uns Sein und unser So-Sein als Zeit der Erwartung verdichtet.

3. Der Advent bietet die letzte Gelegenheit zur Umkehr, damit wir Weihnachten nicht verpassen. Die Symbolfigur des Advent ist nicht ohne Grund Johannes der Täufer. Sein Ruf zur Buße meint auch die Umkehr von den Irrwegen, die uns in die aktuelle Situation gebracht haben. Menschliches Hineindrängen in fremde Gefilde und Überschreiten sinnvoller Grenzen gerade auch gegenüber der Natur. Klimawandel und daraus folgend neue dramatische Fluchtgeschichten. Die Ideologie des Wachstums ohne Grenzen. – Adventliches Predigen ist keine Beruhigungspille. Es fordert heraus, benennt beim Namen, schont uns nicht um unsere Sehnsucht nach Harmonie willen Die Zeit der elementaren Unterbrechung der Alltags-Realitäten steht noch aus.

4. Die weihnachtlichen Erzählungen beschreiben keine rührselige Geschichte. Sie bilden ein Narrativ, in dem ich mich mit meiner eigenen Lebensgeschichte widerfinden kann. Eine Geschichte von Gut und Böse. Eine Geschichte von Bedrohung und Rettung. Eine Geschichte von Himmel und Erde. Die Geschichte eines großen Rettungsprojektes, das mit der Geburt eines kleinen Kindes beginnt. - Weihnachtliches Predigen erzählt die alten Geschichten so, dass ich in meiner Lebensgeschichte den Dreh- und Angelpunkt entdecke, der alles aus den Angeln heben kann.

5. Weihnachten wird es nicht an einem besonderen Ort, sondern mitten im Leben der Zuhörenden. Weihnachten wird es da, wo Gott und Mensch sich begegnen: auf den Hirtenfeldern, die von Engeln erleuchtet werden. Bei Menschen, ganz weit weg von den Zentren der Religion, die es sich etwas kosten lassen, dieses Kind zu finden. Auf der Intensivstation im Krankenhaus. In einem Stall, den ein neugeborenes Kind zu einem Ort der Hoffnung macht. – Weihnachtliches Predigen nimmt auf, was ein Lied in die Worte fasst: „Bethlehem ist überall!“

6. Weihnachten und unsere traditionelle Weise, dieses Fest zu feiern sind nicht dasselbe. Immer wieder lese ich: Weihnachten fällt dieses Jahr eher aus. So wie angeblich auch Ostern ausgefallen ist. Es stimmt: Bestimmte Rituale werden in diesem Jahr nicht möglich sein. Enge, dicht gefüllte Kirchen. Gemeinsames Singen weihnachtlicher Lieder. Große familiäre Feiergemeinschaften.

Aber was vielen Menschen guttut, ist nicht Weihnachten. Weihnachten ist eigentlich eher das Gegenteil. Da schickt der Kaiser Menschen erbarmungslos quer durch sein Reich. Da finden die Hirten ein Elternpaar und ein Kind in einer zugigen Absteige. Heilig wird diese Nacht allen Beteiligten kaum vorgekommen sein. Ihnen hat eher das Virus der Gnadenlosigkeit zugesetzt. – Weihnachtliches Predigen könnte dieses Jahr ganz anders werden. Anders in den Formen – zwangsläufig. Anders aber auch in der Botschaft. Nicht beschwichtigend kommt sie daher. Kein alles halb so schlimm. Sondern eher tröstlich: Am Ende wird alles gut. Aber weil viele noch nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende!

7. Weihnachten kommt nicht ohne Herodes aus! Herodes hat sich nicht auf den Weg nach Bethlehem gemacht. Zumindest nicht, um dem Kind seine Referenz zu erweisen. Er hat seine Soldaten hingeschickt. Und deren Treiben war ein ganz und gar Unweihnachtliches.

Wenn ich mich umschaue, sind da auch heute einige unterwegs, die mit Bethlehem nicht viel im Sinn haben. Die einen demonstrieren gegen alles, was ihrem eigenen „Erst komme ich!“ in den Weg kommt. Statt Querdenker zu sein, was sie vorgeben, sind sie einfach Querulanten. Die anderen nehmen nicht wahr, dass ihre Zeit vorbei ist. Ihnen wurde, so sagen sie, der Sieg gestohlen. Die dritten haben sich einfach verirrt. Ihnen ist die Richtung im Leben abhanden gekommen. – Weihnachtliches Predigen hat auch diese Menschen im Blick. Herodes hat die Chance nicht genutzt, es zusammen mit den Sterndeutern aus dem Osten Weihnachten werden zu lassen. Wir sollten die Türen für sie dennoch offen halten. Aber entscheiden muss jede und jeder für sich selber. Meine Weihnachtspredigt trifft nicht in jedes Herz. Aber dafür bin ich dann auch nicht verantwortlich. Das kann mich am Ende auch wieder gelassen sein lassen.

„Ist Weihnachten noch zu retten?“ Dieser Frage gehen wir in den nächsten Tagen nach: Miteinander und jede bzw. jeder für sich? Ich bin gespannt, zu welchen Antworten wir bis zum kommenden Freitag finden.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.