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27.04.2020

In einem Tresor im Nationalarchiv in Paris wird der sogenannte Urmeter aufbewahrt und gehütet. Eingeführt im Jahre 1791 war der Urmeter ursprünglich der zehnmillionste Teil des Viertels derjenigen Erdumfangslinie, die Paris und den Nordpol berührt. Später wurde die Definition noch mehrere Male geändert. Im Jahre 1960 wurde der abgeschafft.

Von der dritten, aus Platin bestehenden Version diesem Urmeter gab es insgesamt 30 Kopien. Diese wurden unter den dieser Definition zustimmenden Ländern verlost. Deutschland erhielt die Kopie Nr. 18, Bayern, damals selbständig die Kopie Nr. 7.

Der Urmeter hat material zwar seine Bedeutung verloren, ideell besteht seine Vorbildfunktion nach wie vor. Er ist der Prototyp eines Normals. Ein Normal ist ein Vergleichsgegenstand, von dem sich andere Messeinheiten hierarchisch ableiten. Das Normal ist dabei der Ausgangspunkt, nach unten nimmt bei der sogenannten Kalibrierung die Genauigkeit immer mehr ab.

Auf das Normal und den Urmeter komme ich nicht ohne Grund zu sprechen. Derzeit ist ja viel von der sogenannten neuen Normalität zu hören. Diese neue Normalität resultiert aus der Einsicht, dass wir derzeit nicht in einer kurzen Unterbrechung der vertrauten Normalität leben. Vielmehr müssen wir uns darauf einstellen, dass die neuen Regeln, unter denen unser Leben derzeit abläuft, eine neue Normalität definieren. Der Urmeter der Nähe, gerade auch der körperlichen Nähe, wird außer Kraft gesetzt, ist gewissermaßen gedehnt.

Ich sehe auch, dass wir uns darauf einstellen müssen, den derzeitigen Status quo fürs erste aufrecht zu erhalten. Aber die Rede von der neuen Normalität finde ich problematisch. Der Urmeter in Paris blieb ein Meter, auch wenn sich die Regierungssysteme dort abgelöst haben. Und der aktuell gültige Urmeter, der sich von der Wellenlänge des Lichts ableitet, unterscheidet sich vom alten Platinurmeter so minimal, dass die Differenz mit bloßem Augen nicht wahrzunehmen ist.

Ich frage also: Was ist in all den Herausforderungen der Corona-Krise unser Urmeter? Was bleibt unberührt, wenn gerade so viele Änderungen zu beraten und zu entscheiden sind? Was ist – als Kirche - unser geistlicher Urmeter?

Drei Punkte definieren für mich gerade im Raum der Kirche den auch in der Krise gültig bleibenden Urmeter, den geistlichen Urmeter gewissermaßen: Wolfgang Huber hat im ZDF-Fernseh-Gottesdienst am gestrigen 26. April in einem ganz anderen Zusammenhang eine Formulierung gebraucht, die diesen geistlichen Urmeter schön und zutreffend beschreibt. Es ginge darum Gott allein die Ehre zu geben, den Mitmenschen zur Seite zu stehen – und den aufrechten Gang zu wahren. Diese die Kriterien des Menschlichen dürfen – so meine ich - in allem Entscheiden nie zur Disposition stehen.

Mich besorgt, dass manche diese Krise auch dafür nutzen, genau dies zu tun: Wenn eine Regierung in der Europäischen Union mit Dekreten regiert und das Parlament sich selber in seinem Wirken außer Kraft setzt. Wenn Impfstoffe nur im eigenen Land zur Anwendung kommen sollen. Wenn bei uns manche etwas zu schnell gefordert haben, durch Handybewegungen solle man ein individuell zuordenbares Bewegungsprofil erstellen können. Wenn eingespielte Codes der Teilhabe und Inklusion außer Kraft gesetzt werden sollen – im aktuellen Fall um Corona einzudämmen – aber dem einen Fall könnten ganz andere folgen.

Mir ist unser geistlicher Urmeter wichtig. Die Bezogenheit auf Gott, von dem sich unser aller Wert und Würde ableitet. Der Predigttext für den gestrigen Sonntag Misericordias Domini spricht davon, dass Christus uns „ein Vorbild hinterlassen“ hat. Und wir „seinen Fußstapfen“ nachfolgen sollen. Das gilt! Bleibend! In Corona-Zeiten und auch davor und danach. Und dass dies gültig bleibt, darauf sollten wir unser Augenmerk richten – gerade als Kirche. Und mitten in allen Entscheidungen, die wir zu beraten und zu treffen haben.

Und gerade in Zeiten wie diesen möchte ich an diesen Satz von Franz von Sales erinnern und ihn in Erinnerung rufen. Franz von Sales ist der Patron von zwei Gruppen, die derzeit in besonderer Weise im Blick sind, der Patron der Journalisten und der Gehörlosen. Mein Lieblingssatz unten seinen Sätzen beschreibt für mich auch so eine Art geistlichen Urmeter, wenn er schreibt: „Nimm dir jeden Tag eine halbe Stunde Zeit zum Gebet. Außer wenn du viel zu tun hast. Dann nimm dir eine Stunde Zeit.“

Ich wünsche Euch und ihnen allen die Lust und die Zeit, auf die Suche nach dem eigenen geistlichen Urmeter zu gehen. Und sich den von niemandem abhandeln zu lassen. Denn so erhält das Leben Maß, Wert und Würde. 

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.