„SIE WAREN UNS GEGENÜBER UNGEWÖHNLICH FREUNDLICH“
PREDIGT ÜBER APOSTELGESCHICHTE 27,18-28,10
BEIM SCHWETZINGER GEBETSTAG
IM RAHMEN DER GEBETS-WOCHE FÜR DIE EINHEIT DER CHRISTEN
ÖKUMENISCHER GOTTESDIENST AM SONNTAG DEN

19.01.2020
Liebe Schwestern und Brüder im Geist der Ökumene! Es freut und ehrt mich, dass ich heute in diesem ökumenischen Gottesdienst beim Gebetstag zur Einheit der Christinnen und Christen die Predigt halten darf. Ich tue dies ja als derzeitiger Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Baden-Württemberg. Aber ich tue es doch zugleich als jemand, der hier in Schwetzingen wohntund lebt und sich deshalb gerade auch der hiesigen ACK in besonderer Weise verbunden weiß. Es ist gut und nötig, dass wir uns als Christinnen und Christen unserer geschwisterlichen Gemeinschaft im Leib Christi bewusst sind. Und es ist deshalb auch wichtig und gut, wenn dies immer wieder – wie heute! - zum gemeinsamen gottesdienstlichen Feiern führt.

Im Mittelpunkt der Predigt soll der Bericht aus der Apostelgeschichte stehen, den wir als Lesung gehört haben. Leicht macht er es mir zum einen. Und zum anderen zugleich doch auch schwer. Leicht, weil es, so wie die Apostelgeschichte berichtet, eine Geschichte mit einem Happy End ist. Alle Schiffsinsassen überleben die Katastrophe. Und den prominentesten Passagier, Paulus aus Tarsus, kennen wir bis heute. Schwer, richtig schwer, macht es mir diese Geschichte, weil es zu ihr unzählige Parallelgeschichten aus unseren Tagen gibt. Und viele gehen leider nicht so glücklich aus wie die des Paulus.

Wie sich die Geschichten doch gleichen! Verbunden sind die alte und die vielen neuen Geschichten nämlich allemal. Verbunden sind sie durch den Ort der Ereignisse, das Mittelmeer und die Insel Malta. Durch das, was sich da damals uns heute ereignet hat und ereignet – bis heute! Verbunden sind sie durch die Tatsache, dass es darum geht, in all den Geschichten den alten Gottesglauben bewährt und bewahrt zu sehen. Gut, dass wir dabei einen hilfreichen Deuter auf unserer Seite haben, eben diesen besonderen Passagier, der diese gefährliche Seereise wie die anderen 275 Passagier überlebt hat: Paulus, der Apostel, auf dem Weg nach Rom. Gut bewachter Gefangener der römischen Justiz wie eine ganze Reihe anderer Personen auch. Paulus war ja nicht der einzige Gefangene an Bord.

Wie sich die Geschichten doch gleichen. Da gibt es einen bunten Haufen von Menschen, die nichts anderes miteinander verbindet, als die Tatsache, dass man mit einem Schiff in die Metropole fahren will - oder muss. Von einigen kennen wir sogar die Namen! Julius ist dabei, der römische Hauptmann, abgeordnet zum Schutz des Paulus. Aristarch, ein Makedonier aus Thessaloniki, der den Paulus schon mehrfach auf seinen Reisen begleitet hat. Der Eigentümer des Schiffs ist dabei und seine ganze Mannschaft. Menschen aus allen Winkeln des römischen Reiches. Handelsreisende, Großgrundbesitzer mit Familienangehörigen und mit den eigenen Sklaven, Verwaltungsbeamte, aber auch arme Schlucker, die auf Arbeit in Rom hoffen.

An Zypern vorbei geht es nach Kreta. Und gegen den Rat des Paulus hält man sich dort nicht auf. Die Fahrt ins Ungewisse geht weiter. Paulus reagiert fast pikiert, dass man nicht auf ihn hört. Warum, so frage ich allerdings schon, warum hätten die meereskundigen Seeleute auf ihn, den Paulus, hören sollen? Auf einen Textil-Handwerker, auf den wegen sonderlicher, kaiserkritischer Lehren in Rom ein Prozess wartet. Auf jeden Fall einer, der mehr vom Land als vom Wasser versteht. Das Unwetter kommt überraschend. Aber es kommt gewaltig. Über vierzehn Tage, so lesen wir, treibt das fahruntüchtige Schiff durchs östliche Mittelmeer. Ladung und Gerät hat die Mannschaft längst ins Wasser entsorgt. Und die Flucht der Mannschaft können die römischen Soldaten nur durch die Intervention des Paulus verhindern. Sie lassen das Rettungsboot einfach davonschwimmen.

Wie sich die Geschichten doch gleichen! Ein ums andere Mal machen sich auch heute die Seeleute von Bord, wenn sie ihre lebensgefährlichen Boote mit viel zu vielen Menschen an Bord ins offene Meer geführt haben. Die Ocean Viking ist im August des letzten Sommers fast zwei Wochen durchs Mittelmeer geirrt, ehe die Flüchtlinge am Ende in Malta an Land dürfen. Und auch hier kennen wir die Zahl der Menschen, die auf dem Schiff waren: es sind 356 Passagiere, die gerettet werden. 65 war es zuvor schon im Juli, die vom deutschen Rettungsschiff Alan Kurdi nach Malta gebracht werden.

Ob sich die Geschichten auch hier gleichen? Ein ums andere Mal lehnt Malta die Aufnahme von Flüchtlingen ab. Ein kleines Land, das pro Kopf allerdings schon mehr Geflüchtete aufgenommen hat als die meisten anderen Staaten in der Europäischen Union. Nur in Zypern und Griechenland sind es noch mehr. Ungastlich sind die Menschen auf Malta gewiss nicht. Schon bei der Seereise des Paulus lesen wir diesen Satz, der das Motto der diesjährigen Gebetswoche zur Einheit der Christen abgibt: „Die Menschen der Insel Malta waren uns gegenüber ungewöhnlich freundlich!“ Die Menschen von Malta – sie machen auf sich aufmerksam durch eine ungewöhnliche herzliche Willkommenskultur.

Wie in München im Jahre 2015 stelle ich mir das vor. Bewohner, die Mitleid mit den Gestrandeten haben. Und die alles daransetzen, ihnen angenehme Begleitbedingungen mitten in allem Unglück zu bieten. „Sie waren uns gegenüber ungewöhnlich freundlich!“ Dieser Satz im Reisebericht lässt aufhorchen. Und der Oligarch der Insel, ein vornehmer Römer namens Publius, nimmt die Gestrandeten kurzerhand in sein eigenes Haus auf.

Gut, dass sich zumindest manche Geschichten doch gleichen! Dass es Menschenfreundlichkeit damals gegeben hat, wie es sie heute auch noch gibt. Und dass der Glaube an Gott Menschen dazu bringt, im Gesicht von ihnen kurz zuvor noch gänzlich fremden Menschen das Bild Gottes und das ihrer Schwestern und Brüder zu entdecken.

Wenn sich die Geschichten doch gleichen – wie gut wäre es, denke ich, wir würden doch noch ein bisschen mehr wissen von dem, was Paulus damals durch den Kopf gegangen ist. Und wie er erlebt hat, was Tausende Menschen aus Afrika in diesen Monaten und Tagen an derselben Stelle erleben.

Und während ich mir den Kopf zerbreche, um darüber nachzusinnen, was Paulus uns wohl noch zu seinen maltesischen Schiffsbrucherfahrungen zu erzählen hätte, fällt mein Blick auf die kleine Meldung: „Unbekannter Paulus-Brief gefunden!“ Irgendwie bin ich wie elektrisiert. In der Meldung wird das Institut für Neues Testament einer renommierten Universität genannt. Ich rufe dort an. Werde hin und her verbunden. Und habe am Ende ein Mitglied der Arbeitsgruppe am Telefon, die den Brief übersetzt und auswertet.

Nein, ein Paulusbrief sein kein Geheim-Dokument sagt man mir. Natürlich, er sei bislang unbekannt oder besser verschollen gewesen, verborgen auf einem alten Papyrus, unter einer Auflistung von Gegenständen, die ein Mitarbeiter der römischen Verwaltung in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts nach Christus angefertigt hat. Ja, auf Zypern habe man das Dokument gefunden. Aber moderne Infrarotbeleuchtung habe den verborgenen Text sichtbar gemacht. Und was dabei ans Licht kam, gleiche schon einer Sensation.

Was schon übersetzt sei, könne man mir problemlos zukommen lassen. Gerne auch per email. Und wenige Minuten später habe ich den Beginn eines Briefes auf meinem Rechner, der meinen Atem stocken lässt.

„Paulus, Apostel Jesu Christi, und Aristarch, sein Wegbegleiter im Glauben an den Auferstanden, an die Schwestern und Brüder im Herrn auf der Insel Malta“. Mir ist schwindlig. Das hätte ich mir nicht einmal zu träumen gewagt. Die Lücke der Information, die ich so gerne gefüllt gesehen hätte – sie lässt sich womöglich schließen. Ich lese also weiter: „Freude sei mit euch und Freundlichkeit und die Gewissheit, dass eure Namen im Himmel geschrieben sind, wenn wir in der Gefangenschaft in Rom, die wir um unseres Glaubens willen erleiden, anderen berichte, welche Zeichen der Liebe wir bei euch empfangen haben.

Ich danke meinem Gott allezeit, dass ich noch mitten in diesem Leben unter euch weile, obwohl ich schon dabei war, mich bereit zu machen für den Weg in das Reich der Himmel. Noch einmal war es wohl in Gottes Willen beschlossen, dass ich mich in diesem Leben meiner himmlischen Berufung zum Zeugenamt als würdig erweise.

Die Freundlichkeit, die uns bei unserem Schiffbruch von euch erwiesen wurde, hat alle Schwestern und Brüder nur tief beschämt. Während andere ihre Küsten sichern, um nicht von fremden Schiffbrüchigen belästigt zu werden, habt ihr eure Häuser, ja was sage ich, eure Herzen weit aufgemacht. Und Publius, der uns mehr als alle anderen zum Bruder geworden ist, hat es sich nicht nehmen lassen, selber Hand anzulegen und um unser Wohlergehen in jeglicher Hinsicht besorgt zu sein.

Was wir von ihm erfahren haben, war viel mehr, als ich es dadurch vergelten konnte, dass Gott mein Gebet erhört und seinen Vater im Leib hat genesen lassen. Dass es Gottes Wille war, ich möge noch nicht aus diesem Leben scheiden, hat die Menge der Gläubigen auch darin wahrgenommen, dass mir der tödliche Biss der Natter nicht hat schaden können. So konnte ich, wiewohl bestimmt für die Gefangenschaft, das Evangelium von der Liebe Christi unter euch aufleuchten lassen. Und wie ich gehört habe, wurden der Gemeinde unter euch noch viele weitere Schwestern und Brüder hinzugetan. So steht ihr den Gemeinden in Antiochia, in der Asia und in Makedonien in nichts nach!“


So weit erst einmal. Die mir überlassene Übersetzung des Briefes an die Gemeinde auf der Insel Malta bricht hier ab. Dass auf der Insel Malta bis heute am 10. Januar jeden Jahres das Fest des Schiffbruchs des Paulus gefeiert wird, ist also nicht nur der Erinnerung an die wunderbare Rettung des Paulus und der seiner Mitreisenden geschuldet. Es ist vor allem das Fest der Gründung einer Gemeinde, deren Geschichte auf dieser Insel seitdem ununterbrochen fortdauert. Bei einer Einwohnerzahl von unter einer halben Million Menschen zeugen um die 400 Kirchen oder Kapellen von einer lebendigen Tradition, die dort um das Jahr 60 nach Christus ihren Anfang genommen hat. Kein Wunder, dass ein Sprichwort auf der Insel lautet: „Wir haben mehr Kirchen als das Jahr Tage hat!“. Und seit der Gründung von „Christians Together in Malta“ im Jahr 1995 gibt es auf der Insel auch so etwas wie eine eigene ACK.

Hätte es damals schon so etwas wie Frontex gegeben, auf deutsch „Europäische Agentur für Grenz- und Küstenwache“ - eigentlich ein mobiles Bollwerk gegen den Eintritt auf das Gebiet der europäischen Union – die Einwohner Maltas wären nie durch das Geschenk des Glaubens und durch ihre Kirchenvielfalt bereichert worden. Und ich bin sicher, dass auch unser Glauben hier mitten in Europa und nicht zuletzt in der Kurpfalz und in Schwetzingen durch den Glauben vieler, die als Geflüchtete bei uns Schutz gefunden haben, sich verändert und an Stärkung gewonnen hat.

Da läuft auf meinem Rechner eine neue Mail des Instituts ein, das mir den Anfangsteil des Briefes schon übermittelt hatte. „Eben hat uns ein Mitarbeiter ein weiteres Stück des Briefes als Übersetzung zukommen lassen. Wir leiten es gerne an sie weiter. Und ich lese:

„Nichts habe ich bei unserer zweiwöchigen Irrfahrt durch das Meer, das hier in Rom „Mare nostrum“ also „Unser Meer“ heißt, mehr und tiefer erfahren als das, was diesem Meer eigentlich den Namen „Meer der Gebete“ geben müsste. Kein Gebet ist vergeblich. Dennoch: Wie viele haben in dem Sturm, aus dem wir unser Leben bewahrt davontragen durften, ihr Leben gelassen. Wie viele sind in den Wogen und Stürmen dieses Meeres schon vor uns und auch seitdem ums Leben gekommen, obwohl sie den Gott, der Christus lebendig aus dem Grab geführt hat, um Rettung und Beistand angefleht haben.

Voll Dank bin ich dennoch, dass ich bis heute auch hier im Gefängnis meinen Glauben bezeugen kann, dass kein Gebet ungehört bleibt, auch wenn es scheinbar den Gang der Dinge des Lebens nicht zu verändern vermochte.“


Was für ein Dokument, geht es mit durch den Kopf. Der schlichte Satz fällt mir ein, mit dem der Ratsvorsitzende der EKD immer wieder die Pastorin Sandra Bils aus der Abschlusspredigt des letzten Kirchentags zitiert: „Man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt.“ Er hat damit für das Projekt eines weiteren Rettungsschiffes auf dem Mittelmeer geworben.

Ich bin mir ganz sicher: Wir haben Paulus auf unserer Seite, wenn wir uns dafür stark machen, dass dieses „Meer der Gebete“ nicht zum „Meer der ungehörten Gebete“ wird. Mehr als 100.000 Menschen überqueren derzeit pro Jahr dieses gefährliche Wasser, um ihrem Leben Zukunft zu geben. Um die 4.000 haben seit dem Jahr 2000 dabei auf der Flucht ihr Leben verloren.

„Sie waren uns gegenüber ungewöhnlich freundlich!“ lesen wir in der Apostelgeschichte über die Menschen, die vor fast 2.000 Jahren gegenüber Schiffbrüchigen, die ihnen zuvor völlig unbekannt gewesen waren, soviel an herzlicher Gastfreundschaft gezeigt haben.

Da erreicht mich eine weitere, dieses Mal dritte Mail. Die letzte Datei war wohl nicht ganz vollständig. „Die Gebete der um Rettung Schreienden müssen zu unseren Gebeten werden“, lese ich bei Paulus. „Und niemand wird euch auf Dauer fremd bleiben, wenn ihr euch mit offenem Herzen und in geschwisterlicher Liebe begegnet.“

Noch einmal halte ich inne. Gibt es da nicht dieses Lied, geht es mir irgendwie durch den Kopf – wie heißt es doch gleich: „Damit aus Fremden Freude werden!“ – Paulus würde es mit kräftiger Stimme und innerer Zustimmung mit uns singen. Aber wir können das doch auch - ohne ihn. Gleich jetzt. Vorher sage ich nur noch „Amen“!

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.