Predigt zum Lied "Tochter Zion"

07.12.2020

Eingangsgebet

Du kommst, Gott, ja du bist schon da.
Verborgen oft, weil ich so ganz anders mit dir rechne als so, wie du dich in mein Leben einmischst.
Übersehen oft, weil ich keinen Blick für dich habe, weil anderes sich in den Vordergrund drängt und meinen Tagesablauf füllt.
Verkannt, weil ich mir meinen Gott so ganz anders vorstelle.
Und dann mache ich mit einem Mal die Erfahrung: Längst bist du meine Wege mit mir gegangen, hast mir Orientierung gegeben, noch ehe ich gemerkt habe, dass ich die Richtung verliere.Du Ganz-anders-Gott, auf dich warte ich. Dein Kommen lässt mein Leben noch einmal in einem ganz anderen Licht aufleuchten. Auch jetzt. Amen.

Hinführung
Längst nicht immer wird das Kommen Gottes in sanften Tönen beschrieben und in leisen Tönen besungen. Manchmal gibt Fanfaren und Trompeten anstatt der Hirtenschalmei. Organsierter Triumph anstatt spontanem Musizieren in improvisierter Bescheidenheit.

Das Lied, um das es heute Abend geht, ist in diesem Sinn ein Lied mit zwei Seiten. Zum einen: Es ist eines der Adventslieder, die ich selber sehr gern singe. Tochter Zion, begleitet von einem Posaunenchor – nicht nur mir kann das Tränen in die Augen treiben. Kein Zweifel - Tochter Zion ist eines der Lieder, die eine Gänsehaut hervorbringen können. Und dafür gibt es auch durchaus Gründe.

Aber dieses eine Lied macht nicht allein die Musik des Advents. Das adventliche Singen – in diesem Jahr leider viel öfter das adventliche Hören – hat viele Facetten. Das zeigt allein schon das Programm dieser Andachten.

 

Aber jetzt hören wir erstmal:

- Orgel („Tochter Zion“), triumphierend

Der Gänsehautcharakter der Melodie – er kommt nicht von ungefähr. Und wer ihn erleben will, muss sich nur einmal das Schlusskonzert der „Last night oft the proms“ in London anschauen. Neben „Rule Britannia“ ist diese Melodie eine, die an die Siege der Seefahrtsnation Britannien erinnert.

Der Komponist ist Georg Friedrich Händel. Es ist die einzige Melodie von Händel, die wir in unserem Evangelischen Gesangbuch haben. Ab dem Jahr 1712 lebt Händel – von einigen Reisen abgesehen – nur noch in London. Im Jahr 1747 komponiert er das Oratorium Joshua – Josua. Im dritten Akt geht es darum, dass der junge Otniel die Stadt Kirjat-Sefer erobert. Seine Rückkehr wird zum triuphalen Festzug. Und bei eben diesem Festzug erklingt das triumphalistische Lied zu Ehren des Helden:

See, the conqu’ring hero comes!
Sound the trumpets, beat the drums.

Die Melodie ist die, die wir heute beim Lied „Tochter Zion“ singen. Diese Trompeten, diese Pauken sind es, die immer noch mitklingen, wenn diese Melodie ertönt. Diesen Chor fügt Händel auch in das 1751 überarbeitete Oratorium „Judas Maccabaeus“ ein. Auch hier gilt sie einem Helden. Formal dem jüdischen Freiheitskämpfer aus dem 2. Jahrhundert vor Christus, Judas Maccabaeus, dem Namensgeber des Werkes. Aber jetzt kommt die erste Wende dieses Liedes.

Gemeint war aber eigentlich der britische Militärhelden William Augustus, dem Duke of Cumberland, der 5 Jahre zuvor in einer grässlichen Schlacht die Monarchie gerettet hatte. Jetzt wird dies Melodie nationalisiert. Das ist seine zweite Wende! Die Melodie gehört in den Urbestand des patriotischen britischen Liedgutes.

Womöglich würden aber nur musikalisch sehr versierte Menschen diese Melodie kennen – oder Freude der britischen Monarchie – hätte ihre Geschichte nicht noch eine Wende, die dritte also, genommen hätte.

Wir befinden uns jetzt im 19. Jahrhundert, genauer gesagt im Jahr 1820 in Erlangen. Der Theologe Friedrich Heinrich Ranke, Bruder des viel bekannteren Historikers Leopold Ranke, unterlegt dem Lied einen neuen Text. Wieder geht es um einen König. Und wieder um einen festlichen Einzug. Aber Ranke deuten den Satz aus dem Propheten Sacharja: „Siehe, dein König kommt zu dir!“ Ranke deutet ihn auf den Einzug Jesu in Jerusalem: „Sie hieben zweige von den Bäumen und breiteten ihre Kleider auf der Straße aus“, so wird berichtet. Dazu kommt: „Der König sitzt auf einem Esel!“

Jetzt aber noch einmal Musik

- Orgel („Tochter Zion“), demütig -

Jetzt also, nach seiner dritten Wende, ist das Lied endgültig im Advent angekommen. Zumindest beim Einzug Jesu in Jerusalem. Denn als das Lied 1826 in einer Sammlung „christlich lieblicher Lieder“ veröffentlicht wird, geschieht diese unter der Überschrift „Am Palmsonntage“.

Aber der Weg vom Palmsonntag zum Advent ist nicht wirklich weit. Und der Einzug Jesu in Jerusalem ist das Evangelium für den ersten Sonntag im Advent.

Jetzt wird die Melodie in noch einmal ganz neu zum Klingen gebracht. Wenn sie die Strophen anschauen, sehen sie gleich: Es klingen lauter Bezüge aus dem Alten Testament an: Nicht nur Sacharja 9. Eine Sammlung von Titeln aus der Hebräischen Bibel wird auf Jesus aus Nazareth bezogen: Der Friedefürst. Der König. König mild. Davids Sohn. Sohn des ewigen Vaters.

Theologisch ist das nicht ganz einfach. Die Inanspruchnahme des Alten Testaments, wie Ranke sie hier vornimmt, ist nicht ganz unproblematisch. Gewissermaßen eine heimliche vierte Wende. Jetzt gehören diese jüdischen Titel uns. Trotzdem war den Nazis das Lied nicht geheuer. Es wurde in vielen Sammlungen linientreu zu singender Weihnachtslieder getilgt.

Und wir: Wir singen es immer noch. Freuen uns mit der Tochter Zion. Und jauchzen mit Jerusalem. Lassen den alttestamentlichen Texten aber ihr Recht. Und sind dankbar, dass sie uns zur Verfügung stehen - wenn wir versuchen, den zu verstehen und den zu deuten, auf den wir warten im Advent. Den, der doch so ganz anders war als die Helden, denen Händel seine wunderschöne Melodie ursprünglich zugeeignet hatte.

Nein, sanft kommt dieser König des Advents zu uns. Ohne Zeichen äußerer Macht – wie die Menschen, die nur auf recht und Gerechtigkeit vertrauen. Und nicht auf die Macht der Waffen. Verletztlich wie die Kranken auf den Coronastationen. Fern der Heimat wie die Millionen, die auch diese Weihnachten unterwegs sind, weil sie Angst haben müssen, nach Hause zurückzukehren. Herbeigesehnt damals und heute. Weil einer doch kommen muss, der dieser Welt eine neue Richtung gibt. Weil Gott kommen muss. Und kommt. Darum: „Tochter Zion, freue dich!“ Und wir freuen uns mit. Amen.

- Orgel -

 

Fürbitten
Eine Zeit der leisen Töne, die erbitten wir, Gott, von dir in diesem Advent, so, dass die es hören, die sonst übertönt werden vom Triumphgesang der Mächtigen.

Eine Zeit der sanften Worte, die erbitten wir, Gott, von dir in diesem Advent – so dass die wieder aufgerichtet werden, denen andere Menschen Lasten auferlegen, die sie nicht mehr tragen können.

Eine Zeit der zarten Gesten, die erbitten wir von dir in diesem Advent, Gott, so dass die Hoffnung schöpfen können, denen andere den Garaus machen wollen.

Dass du kommst, Gott, mitten in unsere Zeit, und dass du unseren Hunger nach Leben stillst, darum beten wir mit den Worten, die dir zu Herzen gehen, weil wir sie dem verdanken, in dem du uns nahegekommen bist wie in keinem anderen Menschen sonst. Darum lasst uns beten:

Vaterunser

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.