Predigt über 2. Korinther 5,1-10 im Gottesdienst am Sonntag, den 14. November 2021 - Vorletzter Sonntag im Kirchenjahr - in der Johanneskirche in Pforzheim

14.11.2021

Hinführung
Gerechtigkeit in den großen und in den kleinen Kreisen, in denen sich mein Leben bewegt – Gerechtigkeit und Recht über die Grenzen meines kleinen Lebens hinaus – darum geht es in einem Brief, den der Apostel Paulus an die Gemeinde in Korinth schreibt. Diese Sätze aus dem zweiten Korintherbrief sind zugleich der für heute vorgeschlagenen Predigttext.

Wir hören auf Worte aus 2. Korinther 5,1.10 – und wir tun dies so, dass wir uns mit einer Liedstrophe immer auf wenige Sätze einstellen, diese Sätze dann hören und zu uns sprechen lassen. Dabei möchte ich den Predigttext von seinem Ende her verstehen. Und alles Vorausgehende als tragende Säulen dieses einen großen letzten Satzes verstehen. Deshalb wird der letzte Vers auch der erste sein, der zu uns sprechen wird. – Aber zunächst singen wir die erste Strophe des Liedes.

1. Meine engen Grenzen, meine kurze Sicht Bringe ich vor dich. Wandle sie in Weite, Herr, erbarme dich? (2x)

Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, auf dass alle Menschen empfangen nach dem, was sie getan haben im Leib, es sei gut oder böse.

 

Predigt – Sequenz 1
Liebe Gemeinde! Die Quintessenz des heutigen Predigttextes. Gleich am Anfang. Übrigens auch der Wochenspruch für diese zweitletzte Woche des Kirchenjahres. Das Thema Gericht. Alle vor dem Richter. Vor aller Augen aufgerollt, was mich ausmacht. Gutes und Böses. Sichtbar Gewordenes und verborgen Gebliebenes.

Niemand hier ist ohne dieses Verborgene. Es macht meine Würde aus, dass ich nicht gläsern bin. Dass nicht alles offenliegt vor den Augen meiner Mitmenschen. Ich bin transparent genug. Leben ist immer Leben in der Öffentlichkeit. In millionenfachen Datensätzen gespeichert. Medial veröffentlicht und zur Schau gestellt in den Social-Media-Schaufenstern unserer Zeit.

Und Gott spielt dieses Spiel wirklich mit.? Zerrt ans Licht, was ich im Leben noch verbergen konnte? Spätestens am Jüngsten Tag wird mein Inneres nach außen gekehrt? Spätestens da wird gesiebt und bewertet? Spätestens da wird mir das Urteil gesprochen? Und wir stimmen ein ums andere Mal ein. Und stimmen zu: „Von dort wird der kommen, zu richten die Lebenden und die Toten!“

Nein! So habe ich Gott nie verstanden. Nein, das geht schon aus Gründen der Praktikabilität nicht, sagt der 13jährige Maarten. Ein Niederländer. Maarten ‘t Hart macht später als Erwachsener als Schriftsteller Karriere. Ist einer meiner Lieblingsschriftsteller. In der Geschichte des Lebens seiner Mutter macht er seine Gedanken als Pubertierender über das Jüngste Gericht öffentlich. Da schreibt er:

„Wenn alle Menschen, die jemals gelebt haben, der Reihe nach abgeurteilt werden müssen, haben wir es mit einer Aufgabe von beispiellosem Umfang zu tun. Angenommen, Jesus käme jetzt wieder: Zur Zeit leben etwa sieben Milliarden Menschen auf der Welt, und Schätzungen besagen, dass im Laufe der letzten 2000 Jahre noch einmal so viele gelebt haben. Das macht insgesamt vierzehn Milliarden Menschen. Die müssen alle abgeurteilt werden, und zwar, laut Apostolischem Glaubensbekenntnis von Jesus persönlich. Gehen wir einmal von einer schnellen Rechtsprechung aus, pro Person nur ein Tag. Selbst dann braucht man locker achtunddreißig Millionen Jahre. Gut, man hat die ganze Ewigkeit zur Verfügung, aber achtunddreißig Millionen Jahre ist irrsinnig lange. Das stellt hohe Anforderungen an das Ausharrungsvermögen eines jeden Einzelnen. Selbst wenn man für jedes Urteil nur eine Stunde veranschlagt, dauert es noch rund anderthalb Millionen Jahre.“

Eineinhalb Millionen Jahre. Schon allein deshalb kann es nicht gehen, meint der 13jährige Maarten. Aber die theologischen Gründe sind noch viel gewichtiger. Gott kartet nicht nach. Gott legt sich keine Beweise zurecht. Schon gar nicht pflegt Gott ein lebenslanges Sündenregister!

Doch bevor ich mich weiter zum Anwalt der Menschen – oder gar zum Anwalt Gottes mache, singen wir erst eine weitere Strophe – und hören dann auf das, was diesem Spitzensatz bei Paulus vorausgeht.

2. Meine ganze Ohnmacht, was mich beugt und lähmt Bringe ich vor dich. Wandle sie in Stärke, Herr, erbarme dich? (2x)

Denn wir wissen: Wenn unser irdisches Haus, dieses Zelt, abgebrochen wird, so haben wir einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel. Denn darum seufzen wir auch und sehnen uns danach, dass wir mit unserer Behausung, die vom Himmel ist, überkleidet werden, weil wir dann bekleidet und nicht nackt befunden werden. 

Predigt – Sequenz 2
Was für ein schönes Bild für das Sterben, liebe Gemeinde! Ein Umzug. Im doppelten Sinn. Ein Gebäudewechsel. Aber auch ein sich umziehen. Ein Austausch der Verhüllung. Das Bild schillert. Wenn Paulus von einem Haus redet, hat er mehr als einen Wohnort im Blick.

Paulus spricht vom Haus wie von einer zweiten Haut, die mich umgibt. Die irdische Haus-Haut verbraucht sich. Sie wird löchrig, brüchig. Sie löst sich auf. Eine Haut wie mein Lebenshauch. Aber ich stehe am Ende nicht nackt da. Dem Richter ausgeliefert. Wie der Kaiser im Märchen, dessen neue Kleider ein Nichts sind. Gott liefert mich nicht dem Gespött meiner Mitmenschen aus. „Schaut mal her! Ein Hochstapler. Eine Blenderin. Mit leeren Händen steht sie da!“

Ja, das Jüngste Gericht des Schreckens, das können wir auf der Erde erleben. „Die Hölle, das sind die anderen!“ Sarte kann so formulieren in seinem Stück: Die geschlossene Gesellschaft, einer Beschreibung der tragischen Verstrickung dreier Menschen. Die anderen können einem eine Ahnung des Jüngsten Gerichtes vermitteln. Oder mich jenes Gericht erahnen lassen, auf das ich - da bin ich mir ganz sicher - bei Gott gerade nicht zugehe.

Gott lässt mir eine neue Haut wachsen. Legt eine neue Zeltleinwand um mich herum. Eine, die Bestand hat. Eine, an der nicht mehr der Zahn der Zeit nagt. Das ist der Himmel, wie Paulus ihn versteht. Nicht mehr ausgeliefert sein. Den anderen. Oder dem Bild eines strafenden Gottes, der Freude daran hätte, mich bloßzustellen.

Sterben heißt dann: Leben – aber anders! Hinüberwachsen, hineinwachsen in Gottes so ganz andere Welt. Und Leben hieße dann: eine Perspektive haben. Leben, das eben nicht von meiner Ansicht, sondern von meiner Aussicht bestimmt ist.

Jesus, den die Tradition als den wiederkommenden Richter beschreibt, nimmt dem Gericht seinen Schrecken. Im Johannes-Evangelium wird ein Satz überliefert, der meine Theologie, meinen Glauben entscheidend prägt:

„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen.“ Vom Tod ins Leben hindurchdringen – schon jetzt! Die neue Haut, die neue Behausung Gottes spüren – schon jetzt. Mitten in meinem alten Leben. Kein Gericht eben. Aber nicht als Gnadenakt. Sondern als Klärung dessen, was Gericht bei Gott meint.

Ein Zurechtgebrachtwerden. Ein Neuanfang in einem anderen Licht. Der große Wechsel meiner Perspektive. Gott schaut mich aus der Zukunft heraus an. Und Gottes große Zukunft mit mir nimmt schon in meiner kleinen Gegenwart ihren Ausgangspunkt. Und macht sie groß. Macht mich so groß. In den Augen Gottes. Dieses Richten Gottes, dieser Richter – Besseres kann mir nicht geschehen! – Höchste Zeit, wieder zu singen!

3. Mein verlornes Zutraun, meine Ängstlichkeit Bringe ich vor dich. Wandle sie in Wärme, Herr, erbarme dich? (2x)

Denn solange wir in dieser Hütte sind, seufzen wir und sind beschwert, weil wir lieber nicht entkleidet, sondern überkleidet werden wollen, damit das Sterbliche verschlungen werde von dem Leben. Der uns aber dazu bereitet hat, das ist Gott, der uns als Unterpfand den Geist gegeben hat.

Predigt – Sequenz 3
Wir seufzen und sind beschwert. Um diesen Satz kommen wir ehrlicherweise nicht herum. Meine Aussichten nehmen meiner Gegenwart noch lange nicht den Schrecken. Meine alte Haut macht sich, trotz der neuen, unangenehm bemerkbar.

Wir seufzen und sind beschwert. Die wieder übervollen Intensivstationen. Die immer größer werdende Zahl von Corona-Opfern. Meine wachsende Ungeduld mit Menschen, die die Frage des Impfens nur für eine von ihnen allein zu entscheidende halten.

Wir seufzen und sind beschwert. Weil die Welt längst nicht so aussieht, wie ich sie mir wünsche. Menschen auf der Flucht, die als Waffe benutzt werden. Vom einen unter falschen Hoffnungen an die Grenze geschleppt. Von den anderen um den Preis des Verrats aller Werte der Mitmenschlichkeit zurückgeprügelt.

Wir seufzen und sind beschwert. Das macht das Leben im alten Gewand und unter der löchrig  gewordenen Decke wohl aus. Längst spüre ich die neue Haut. Die Behausung und die Behäutung Gottes. Aber einstweilen muss ich mit der anderen erst einmal noch vorlieb nehmen. Da steht noch etwas aus. Da muss noch ein ganz anderer Geist durch mein Leben wehen! – Aber bevor ich darauf zu sprechen komme, singen wir die nächste Strophe

4. Meine tiefe Sehnsucht nach Geborgenheit Bringe ich vor dich. Wandle sie in Heimat, Herr, erbarme dich? (2x)

So sind wir denn allezeit getrost und wissen: Solange wir im Leibe wohnen, weilen wir fern von dem Herrn; denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen. Wir sind aber getrost und begehren sehr, den Leib zu verlassen und daheim zu sein bei dem Herrn. Darum setzen wir auch unsre Ehre darein, ob wir daheim sind oder in der Fremde, dass wir ihm wohlgefallen. 

Predigt – Sequenz 4
„Wir wandeln im Glauben, nicht im Schauen.“ Das ist die Lösung, die Paulus anbietet. Das ist sein Versuch, mein Seufzen und Beschwertsein mit dem Leben in der neuen Behausung Gottes in Zusammenhang zu bringen.

Glauben heißt also: Das erst noch Ausstehende als schon gegeben ansehen. Glauben heißt, so zu leben, als hätte die neue Haut Gottes meine alte schon gänzlich ersetzt. Die neue Welt Gottes im Vorhinein erglauben. Sie im Glauben schon vorweg wirklich sein lassen.

Im Blick auf das eingangs erwähnte Bild vom Gericht meint Glauben: Meinen Freispruch, meine Gerechtsprechung vor den Augen Gottes schon vorwegzunehmen. So zu leben, als sei das noch Ausstehende schon die alles bestimmende Wirklichkeit.

Zu dem, was mir im Glauben als alte Haut bleibt, gehört das immer löchriger werdende Gewand des Friedens. Der heutige Sonntag ist traditionell der sogenannte Volkstrauertag. Sogenannt, weil diese Trauer eine sehr doppeldeutige ist. Lange war sie sehr ausschließlich die Trauer um die Toten der beiden großen Kriege des vergangenen Jahrhunderts. Ohne nach der Ursache zu fragen, warum diese Kriege denn geführt wurden. Wer sie über die Menschen hat kommen lassen. Wer Verrat geübt hat an dem Satz der ersten Vollversammlung des Ökumenischen Rates aus dem Jahr 1948 in Amsterdam. „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein!“ so hat man damals bekannt. So müssen wir an jedem Volkstrauertag neu bekennen.

Trauer ja, aber nicht blind. Trauer - eher im Sinn einer Kriegsverhütungstrauer. Darum ist es gut, dass dieser Sonntag, dieser Volkstrauertag mitten in der Friedensdekade liegt.

Wir seufzen und sind beschwert. Immer noch. Und wir kommen um die Trauer nicht herum. Aber wir leben im Glauben, wenn auch noch nicht im Schauen. Die Botschaft der ökumenischen Friedensdekade weist uns auf neue Wege des Lebens. Wenn Krieg nach Gottes Willen nicht sein soll, dann wird die Welt nach Gottes Willen eines Tages auch ohne Krieg sein. Weil auch hier an Gericht schon mehr als genug über die Menschen ergangen ist.

Bis dahin ist unser Einsatz gefragt. An Orten und mit Ideen, die Gottes neue Behausung schon erahnen lassen. Mit kritischem Blick und mit klaren Worten. Ohne Angst vor einem Gericht, die uns doch nur unser Rückgrat brechen will. Aber voller Vertrauen, dass alles gut wird. Und dass das Beste noch aussteht. Dann, wenn uns Gottes neue Behausung schön macht. Und wir im Schauen wandeln. Von dieser Hoffnung lasst uns schon heute leben. Amen.

PredigtliedL (Melodie EG 398: In dir ist Freude): Es klingt auf Erden Friede muss werden (3 Strophen)

Das Fest-Lied vom Frieden
(auf die Melodie „In dir ist Freude)

Es klingt auf Erden:
Friede muss werden,
Waffen retten nicht die Welt!
Zu andrem Denken
will Gott mich lenken.
Hoffnung neu ins Leben fällt.
Gott will ich trauen
und danach schauen,
worin im Leben,
das mir gegeben,
neu Halt und Glauben
sich finden lässt.

Ich will es wagen
und mutig sagen,
wie ich die Schritte
lenk’ hin zur Mitte,
zu Korn und Trauben.
Gott lädt zum Fest.

Es klingt auf Erden:
Mehr Recht muss werden,
Willkür schadet dieser Welt!
Arm sind die einen,
statt Lachen Weinen.
Reichtum andre oben hält.
Üb’ neu das Teilen,
versuch zu heilen,
was Seelen kränket.
Würde neu schenket,
wer Menschen zuspricht:
Gott macht dich groß!
Im großen Reigen,
will Gott mir zeigen,
lässt sich dem Leben,
neu Richtung geben.
Der Tanz des Lebens
geht längst schon los.

Es klingt auf Erden:
Freiheit muss werden!
Den Despoten dieser Welt
mangelt der Segen.
Auf ihren Wegen
Böses noch die Macht behält.
Gott schenkt uns Träume
lässt Handlungsräume
ganz neu entstehen,
und ich kann sehen,
der bess’ren Zukunft leuchtendes Band.
Als Schwester, Bruder,
reiß ich das Ruder
in neue Weite,
Gott an der Seite!
Froh will ich singen
im Hoffnungsland!  

                        Traugott Schächtele

 

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.