Wort-Miniaturen, vorgetragen im Gottesdienst am 26. Dezember 2021 (2. Weihnachtstag) im Luthersaal in Schwetzingen

 

26.12.2021

Text 1
Und der Engel sprach zu Ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird. Denn euch ist heute der Retter geboren!  (Lukas 2,10+11)

Was fehlt, wenn die Engel fehlen? Für die Hirten alles. Kein helles Aufblitzen einer besseren Zukunft mitten in der dunkelsten Nacht. Keine Aussicht auf einen Retter, die die alten Machtverhältnisse aus den Angeln hebt. Kein Kind im Stall, aus dessen Angesicht ihnen die Wirklichkeit Gottes entgegenleuchtet.

Stattdessen: Ein Tag, der dem anderen gleicht. Schnödes Einerlei im Auf und Ab des Lebens. Nein, keine Aussicht auf ein Entkommen aus diesem Kreislauf der täglichen Wiederholung des immer Gleichen. Bitteres Lebensbrot. Jeden Tag aufs Neue!

Wie wünsche ich mir in diesem Jahr diesen Jubelruf der Engel. Und an vielen Orten. Da, wo sich – wie die die Hirten – die an den Rand Gedrängten unserer Tage finden lassen: In einer der vielen weihnachtlichen Karten, die mich in den letzten Tagen erreicht haben, heißt es (Christine Wolf):

Der Engel ruft:
„Fürchte dich nicht!“
für den Vater
und sein Kind
im Schnee
an der Grenze zu Polen

für die Schwester
und ihre Freundin
im Schlauchboot
auf dem Weg nach England

für die Pflegerin
und ihre Senioren
im Altenheim
auf der Quarantänestation

Laut müssen sie rufen
die himmlischen Heerscharen
denn die Furcht ist groß
Vielstimmig werden sie rufen
die Gottesboten
denn die Zuversicht ist größer:
„Euch ist heute der Heiland geboren!“

Das genügt. Mehr müssen sie nicht sagen, die Engel! Aber singen sollen sie. Überall und für alle. Und wir mit ihnen.

Musik 1
Flöte / Klavier: Französische Weihnachtsmelodie ("Il est né le divin enfant")

Text 2
Und der Engel Gabriel kam zu Maria und sprach: Fürchte dich nicht! Du hast Gnade bei Gott gefunden. Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben. (Lukas 2,30+31)

*****

Als die Weisen aber hinweggezogen waren, da erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum und sprach: Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir’s sage; denn Herodes hat vor, das Kindlein zu suchen, um es umzubringen. (…)

Als aber Herodes gestorben war, siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum in Ägypten und sprach: Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und zieh hin in das Land Israel. Sie sind gestorben, die euch nach dem Leben trachten (Matthäus 2,13.19-21)

Was fehlt, wenn die Engel fehlen? Für Maria und Josef alles. Keine Aussicht, dass die Niedrigen erhöht und die Mächtigen vom Thron gestoßen werden. Kein Kind in der Krippe! Kein Wunder der Weihnacht. Keine rettenden Träume bei Josef. Kein „Steh auf und flieh!“ Und dann: „Steh auf und kehre zurück!“ Stattdessen Verfolgung und Meuchelmord.

Maria – sie bliebe in den alten Rollenerwartungen verhaftet. Ohne Josef, der sich heimlich davon gemacht hätte.

Der schweizer Dichter Kurt Marti hat Maria in einem wunderschönen Gedicht beschrieben – das, was sie geworden ist, weil sie auf den Engel gesetzt hat. Nur ein paar Zeilen aus diesem Gedicht:

später viel später
blickte maria
ratlos von den altären
auf die sie
gestellt worden war
und sie glaubte
an eine Verwechslung
(...)
und maria trat aus ihren bildern
und kletterte
von ihren altären herab
und sie wurde
das mädchen courage
rebellin gegen männermacht
und hierarchie
(...)
und sie bot
aufständischen bauern
ein versteck
(....)
und sie war und sie ist
vielleibig vielstimmig
die subversive hoffnung
ihres gesangs

Keine Frage: Engel sind gefährlich. Wer ihnen begegnet, kann nicht mehr zurück. Nie deuten Engel die Vergangenheit. Aber immer ermöglichen sie Zukunft.

Nach nichts sehnen Menschen sich mehr als nach einer Zukunft, die die Gegenwart übertrifft. Doch die Zukunft hält uns das Böse nicht einfach vom Leib. Bei Maria und Josef folgte auf den Stall die Flucht. Aber nie ist die Zukunft heillos. Nie bleibt sie ohne Perspektive. Zumindest wenn der Engel mitgeht.

Engel machen unseren Gang leichter. Sie bringen uns zum Staunen. Und zum Singen!

 

Musik 2
O Freude über Freude (schlesisches Weihnachtslied - „Ihr Nachbarn kommt und hört“)

Text 3
Denn er hat seinen Engeln befohlen,
dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen,
dass sie dich auf den Händen tragen
und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.
Über Löwen und Ottern wirst du gehen
und junge Löwen und Drachen niedertreten.
Ich will dich herausreißen und zu Ehren bringen.
Ich will dich sättigen mit langem Leben
und will dir zeigen mein Heil. (Psalm 91)

Was fehlt, wenn die Engel fehlen? Für Sie und mich doch eigentlich alles. Sicher: Engel haben es schwer in dieser sehr rational geprägten Welt. Je weniger ich mit ihnen rechne, desto mehr verschwinden sie im heiligen Versteck.

Wenn ich nicht mehr damit rechne, dass da plötzlich ein Engel auftaucht neben mir, geht mir eine wesentliche Dimension meines Lebens verloren. Ich bin schon Engeln begegnet. Und nicht nur einmal. Und ich bin sicher: Sie auch! Rudolf Otto Wiemer hat in seinem bekannten Engelsgedicht eine Suchhilfe für Engel in meinem Leben in folgende Worte gefasst:

Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein,
die Engel.
Sie gehen leise, sie müssen nicht schrein,
oft sind sie alt und hässlich und klein,
die Engel.

Sie haben kein Schwert, kein weißes Gewand,
die Engel.
Vielleicht ist einer, der gibt dir die Hand,
oder er wohnt neben dir, Wand an Wand,
der Engel.

Genau das macht ja einen Engel aus. Dass er sich mir menschlich nähert. Wenn schon Gott Mensch wird, kann ein Engel dahinter doch nicht zurückbleiben.

Was fehlt also, wenn die Engel fehlen? Für Sie? Für mich? Nicht einfach nur der Himmel auf Erden. Es fehlt viel mehr noch, was Menschen einander menschlich werden und menschlich bleiben lässt. Es fehlt, was diese Tage der Weihnacht zu ganz besonderen Tagen werden lässt. Immer noch. Und jedes Jahr aufs Neue.

Engel sind für den Glanz verantwortlich. Den Glanz in meinem Leben. Gerade dann, wenn die Tage trist daherkommen. In Corona-Zeiten zumal. Gerade jetzt habe ich den Engel nötig. Gerade jetzt ist er in Rufweite. Nicht nur bei den Hirten. Nicht nur bei Maria und Josef. Auch bei mir.

Hinter die Welt voller Engel komme ich nicht mehr zurück. Aber mit den Engeln komme ich nach vorn. Mit den Engeln habe ich Zukunft. Und mein Leben erhält Glanz.

Das lässt mich singen. Und dankbar dem, Gesang der Engel lauschen. Amen.

Musik 3
(Peter Cornelius: Die Hirten)

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.