Wort zum Tag (SWR 2 - wegen des Todes von Hans Küng nicht gesendet)

07.04.2021

Wann wird das Leben wieder normal? Diese Frage höre ich immer wieder. Und dahinter erkenne ich die Sehnsucht, vieles von dem, was im Moment nicht geht, möge doch bald wieder möglich sein. Ich kann das verstehen. Schließlich ergeht es mir ja ganz ähnlich. Ich frage mich aber auch: Ist das vorher alles so gut gewesen, dass ich die Gegenwart nur an dem messe, was war. Und nicht auch an dem, was noch sein könnte?

Was fehlt, ist also ein Maß für das, was Normal ist. In der Längenmessung ist das Pariser Urmeter so ein Maß. Es wird sogar als das Normal bezeichnet. Ein Meter, das war der zehnmillionste Teil der Strecke vom Nordpol zum Äquator. Heute vor 226 Jahren hat die französische Nationalversammlung den Meter als neue normale Maßeinheit festgesetzt. Und dieses neue Normalmaß sogar in Platin gießen lassen.

Ich könnte das Urmeter einfach einmal als Bild für das Maß nehmen, das ich an mein Leben anlege, und fragen: Welches Leben ist für mich normal? Vieles, was derzeit nicht geht, habe ich genossen. Und vermisse es auch. Das Feiern im großen Kreis. Konzertbesuche. Festliche Gottesdienste. Aber das Rad hat sich vorher immer schneller gedreht. Immer mehr. Immer weiter. Unaufhörliches Wachstum. Auch das der Erderwärmung. Auch das der Löcher in der Ozonschicht. Keine Grenzen des Möglichen mehr, die akzeptiert wurden. Nein - normal war das nicht!

Für das, was wirklich normal, was wirklich erstrebenswert ist, da bräuchte es doch eine andere Messlatte. Eine, die noch einmal ein ganz anderes Maß an mein Leben anlegt. Eine, die nicht nur nach der Gegenwart fragt, sondern auch danach, wie ein normales  Leben auch noch für die möglich ist, die nach uns auf dieser Erde leben möchten. Ich finde ein solches Maß im Buch des Propheten Micha. Dort heißt es: “Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist, nämlich Gerechtigkeit üben, barmherzig und nachsichtig sein gegenüber deinen Mitmenschen und glaubwürdig den Weg mit deinem Gott gehen.“ (Micha 6,8)

Ein Maß ist das, das ich immer anlegen kann. Unabhängig von dem, was mein Leben gerade ausmacht. Im Blick auf die Gegenwart könnte das zum Beispiel heißen: Gerechtigkeit – etwa auch bei der weltweiten Verteilung des Corona-Impfstoffs. Und nicht Gott verantwortlich machen, wo wir in der Verantwortung stehen. Daran muss ich mich auch selber messen lassen. Dann kann ich mich zurecht darauf freuen, wenn hoffentlich bald auch mein derzeit eingeschränktes Leben wieder etwas normaler wird.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.