KLARTEXT zum 10. Sonntag nach Trinitatis (Israelsonntag) für ZEITZEICHEN 8/2022

21.08.2022

Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. (Matthäus 5,17)

Die Bergpredigt leidet nicht unter Übererfüllung. Das eine Mal kann man mit ihr „keine Politik machen“. Das andere Mal sollen ihre „evangelischen Räte“ nur für diejenigen gelten, die in herausgehobenem Maße Christinnen und Christen sein wollen. Aber in beiden Fällen wird klar: Alltagstauglich erscheinen ihre Anforderungen kaum. Grund genug, sie abzuschleifen, zu relativieren und den Realitäten des Lebens unter Normalbedingungen anzupassen. Mittendrin in diesem Katalog der Rahmenbedingungen eines jesuanisch eingefärbten Christseins wird diese Frage, die wir an die Bergpredigt herantragen, in ihr selber und in noch viel radikalerem Maße thematisiert. Was bleibt von der Thora noch übrig? Hinsichtlich ihrer Brauchbarkeit für die Fragen der Gestaltung unseres Alltags wird diese Frage gestellt. Theologisch aber auch im Blick auf die Herausforderungen eines Glaubens, der sich an Jesus von Nazareth orientiert. Bleibt in Geltung, was unsere Möglichkeiten im Grunde überfordert?

Vergleichbare Debatten führen wir bis heute. Kaum hat uns der Ernstfall eines Krieges mitten in Europa eingeholt, stehen die Wege der Suche nach einem gerechten Frieden nicht nur auf dem Prüfstand – da gehören sie immer hin! – manchen gelten sie auch gleich schon als erledigt. Eine ethische Scheindebatte unter Schönwetterbedingungen, nicht geeignet, Antworten für den friedensethischen Ernstfall zu geben. So als sei Jesu Seligpreisung derjenigen, die Frieden stiften, auch nur so lange gültig, wie die Feinde des Friedens dies zulassen.

Ratlos bleibe ich zurück. Denn der Bergprediger lässt keinen Deut Spielraum, gibt keinen Buchstaben preis, um mir existentielle Entscheidungen höchster Tragweite zu ersparen. Wo rationale Logik scheinbar keinen anderen Ausweg lässt, wird die ethische Messlatte noch einmal höher gelegt. Unser Entscheiden steht nicht nur vor den Menschen, sondern auch vor Gott auf dem Spiel. Nein, wir können uns nicht billig davonmachen. Die Forderungen von „Gesetz und Propheten“ erweisen sich nach wie vor als ein hilfreiches Geländer, auch um friedenspolitisch nicht zu straucheln und keinen Schaden an unserer Seele zu nehmen. Dass sich die Thora in der Liebe erfüllt, setzt sie noch lange nicht außer Kraft. Und verwandelt meine Ratlosigkeit in den Impuls, der Liebe Gottes den längeren Atem zuzutrauen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.