Predigt über Hoheslied 2,8-13, gehalten am 4. Dezember 2022 in der evangelischen Jakobskirche in Karlsruhe-Wolfartsweier

04.12.2022

Liebe Gemeinde!

Ich freue mich sehr, dass ich heute bei Ihnen und mit Ihnen diesen Gottesdienst feiern darf. Im August 1989 habe ich zum ersten mal hier Gottesdienst gefeiert. Also vor 33 Jahren, vor einem halben Menschenleben. Als Lehrvikar noch ganz am Anfang meines Weges als Pfarrer.

Diese Jakobskirche war damals noch ganz frisch im neuen Gewand der Umgestaltung. Mit ihrer Kunst. Mit Kruzifix und Altar. Mit den neuen Fenstern. Ihr neues Äußeres hatte es mir gleich angetan. Diese Kirche – sie war also so etwas wie meine erste Liebe auf meinem Weg als Pfarrer. Im Warten auf das, was dieser Weg noch alles bringen würde. Die Liebe und der Advent – das ist auch das Thema dieses Gottesdienstes und dieser Predigt. Die adventliche Liebe – sie ist eine, die mit der Fähigkeit, warten zu können, verbunden ist.

„Es kommt nicht darauf an, wie lange man wartet, sondern auf wen man wartet!“ Dieser Satz könnte in der Bibel stehen, so wunderbar passt er in den Advent. Menschen warten auf die Wiederkunft Christi. Seit 2000 Jahren.  Im Gottesdienst wiederholen wir jeden Sonntag im Glaubensbekenntnis den Satz: „Von dort wird er kommen zu richten die Lebenden und die Toten!“

Lange genug warten Menschen – jedes Jahr aufs Neue! Erträglich wird dieses Warten, weil es eben nicht irgendjemand ist, auf den hin Menschen sich ausrichten. „Es kommt nicht darauf an, wie lange man wartet, sondern auf wen man wartet!“

Nicht irgendwo in der Bibel steht dieser Satz, in den Sprüchen oder in der Offenbarung. Nein! Er stammt aus dem Film „Manche mögen’s heiß“ mit Marylin Monroe. Gedreht im Jahre 1959.

Richtig adventlich kommt dieser Satz daher. Der Advent – das Warten im Advent – es hat auch etwas vom Warten zweier Liebender. Aber irgendwie wirkt dieses adventliche Warten, als sei es in die Jahre gekommen! Das adventliche Warten auf Gott wie das Warten Zweier, die sich lieben – da ist noch gehörig Luft nach oben. Als gehetzt finde ich unser Warten nicht selten. Als genervt und kurzatmig. Wenn das Liebe ist, dann ist davon einiges verschüttet.

Ich komme nicht ohne Grund auf dieses adventliche Warten im Stil einer heftigen Liebesgeschichte. Der Predigttext, vorgeschlagen für diesen 2. Advent, setzt genau bei diesem Verständnis ein. Er steht im Alten Testament, im Hohenlied der Liebe. Dort heißt es:

Da ist die Stimme meines Freundes! Siehe, er kommt und hüpft über die Berge und springt über die Hügel. Mein Freund gleicht einer Gazelle oder einem jungen Hirsch. Siehe, er steht hinter unsrer Wand und sieht durchs Fenster und blickt durchs Gitter. Mein Freund antwortet und spricht zu mir:

Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her! Denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist vorbei und dahin. Die Blumen sind hervorgekommen im Lande, der Lenz ist herbeigekommen, und die Turteltaube lässt sich hören in unserm Lande. Der Feigenbaum lässt Früchte reifen, und die Weinstöcke blühen und duften. Steh auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, komm her! 

Da haben sich die Bibelmacher ganz gehörig geirrt. Zunächst jedenfalls. Sie haben das Hohelied der Liebe einfach in den Kanon der biblischen Schriften aufgenommen. Und dort steht es bis heute. Wenn man sich hineinliest in dieses biblische Buch, da kann man da Staunen lernen. Es enthält die Geschichte zweier Menschen, die sich lieben. Meist in Form von Liedern, die die Liebe beschreiben und besingen. Die körperliche, die erotische Liebe. Mit Kosenamen. Mir Vergleichen. Mit der Beschreibung dessen, was die Liebe ausmacht.

Dass dieses Lied in der Bibel auftaucht, es verdankt sich einem Irrtum. Dem Glauben, hier würde die Liebe zwischen Gott und den Menschen beschrieben. Aber Gott kommt in den Liedern und Texten gar nicht vor. Gott wird geschmunzelt haben, als sich die Menschen damals dafür entschieden haben, dass dieses Buch aufgenommen wird in den Kanon der biblischen Schriften. Wie gut, dass Gott Humor hat.

Und als dann in der Auseinandersetzung mit dem Leben und Sterben Jesus Christi die Texte der Bibel erneut in den Blick gerückt werden, kommt eine neue Deutung hinzu. Es könnte in den Liedern ja auch um die Liebe Christi zu seiner Kirche gehen.  Die Kommission, die sich vor einigen Jahren an die Überarbeitung der Liste der Predigttexte gemacht hatte, scheint dies ähnlich gesehen zu haben. Und sie hat uns dieses wunderschöne Lied als Predigttext zum  zweiten Advent präsentiert.

Dass wir diesen wunderbaren Text überhaupt als Predigttext haben, das freut mich. Aber ob es ein Text ist, der unser adventliches Warten ins rechte Licht rückt, das wird sich erst noch zeigen müssen.

Um eine kleine Schule des Wartens soll‘s also jetzt gehen in dieser Predigt. Des Wartens überhaupt. Des Wartens zweier Liebender. Und zuletzt des adventlichen Wartens.

Zunächst zum Warten überhaupt. Warten heißt ja nicht einfach, untätig die Zeit verstreichen lassen, bis irgend etwas Erwartetes eintrifft. Das Wort die Warte steckt darin, der Punkt, von dem aus ich Ausschau halte. Von meiner Warte aus, sagen wir manchmal. Oder von einer höheren Warte aus betrachtet. Fürsorgliches Schauen, von einer bestimmten Warte aus, das meint Warten dem ursprünglichen Wortsinn nach. Es ist also eine höchst intensive Aktivität, die sich mit dem Thema Warten verbindet. Ein suchender, ein aufdeckender Blick.

Das Stichwort warten kommt bei uns ja auch in einem ganz anderen Zusammenhang vor. Beim Wartungsdienst etwa. Wer sein Auto warten lässt, gibt es in die Obhut von jemandem, der danach schaut, ob alles in Ordnung ist.

Wer wartet, ist also keineswegs untätig. Oder passiv. Wer wartet, konzentriert seinen Blick. Nimmt den oder die in Augenschein, denen das Warten gilt.  Menschen hätten das Warten verlernt, höre ich immer wieder. Wenn das so stimmt, dann heißt das also nicht nur, dass sie die Zeitspanne nicht mehr aushalten können, bis irgendetwas Erwartetes eintrifft. Es bedeutet dann auch, dass sie den liebevollen Blick verlernt haben, der sich einer Sache wartend entgegenrichtet.

Warten hat also doch etwas mit Liebe zu tun. Liebende gleichen nicht nur die Uhrzeit ab und berechnen die Zeitspanne, bis sie zusammentreffen. Das allein ist noch kein Warten. Das ist bestenfalls ein Sich-Verabreden. Aufeinander zu warten heißt zuallererst, sich mit den je eigenen Gedanken aufeinander einzustellen. Die Zeit auszukosten, sie zu genießen, vielleicht auch sie zu ertragen, das meint warten. Wer wartet, weiß nicht, ob das Warten am Ende ans Ziel kommt. Aber das Warten trägt seinen Wert in sich.

Und damit wären wir in unserer kleinen Schule des Wartens beim adventlichen Warten angelangt. Dieses adventliche Warten bezieht sich nicht nur im Bild auf das Warten auf die Ereignisse der Heiligen Nacht. Die Geburt dieses Kindes, all das, was wir mit Weihnachten verbinden, hat sich vor zweitausend Jahren zu getragen. Da warten wir nicht wirklich. Müssen auch gar nicht mehr warten. Daran lassen wir uns eher erinnern.

Wenn ich warte, adventlich warte, dann geht es vielmehr darum, wie diese Ereignisse sich jeweils neu in mein Leben ziehen lassen. Wie dieser eine, von dem wir sagen und bekennen, in ihm sei Gott in die Welt eingetaucht – wie der neu auftaucht in meinem Leben. In unser aller Leben.

Im Advent übe ich mich von Neuem in diesem Warten. Ich übe mich im liebevollen Blick. Ich nehme die alte Welt neu wahr. Ich lerne neu, meinen Blick nicht sorgenvoll zurück zu richten. Sondern voller Zuversicht nach vorne. Weil Gott mir aus der Zukunft entgegenkommt.

Es gibt genügend, worauf ich warte in diesem Advent. Und nicht nur ich. Auf Frieden, den großen äußeren und den kleinen inneren. Auf Gerechtigkeit, nicht nur für die wenigen, sondern für möglichst viele. Auf Wege, wie wir mithelfen, dass die nächste Generation sich nicht länger als last generation, als letzte Generation erleben muss. Darauf warten die jungen Menschen mit großer Ungeduld. Und völlig zurecht.

Wie gut, dass Advent ist. Wie gut, dass ich Zeit habe, zu warten. Das Warten neu zu lernen. Und im Warten den wiederkommenden Christus zu entdecken. Nein, er kommt nicht irgendwann am Ende irgendwelcher Tage. Der adventlich Erwartete ist längst da. Ihn wahrzunehmen, darum geht’s im Advent. Darum geht’s bei meinem Warten.

Wie Liebende sollen wir warten in diesen Wochen des Advents. Dazu lädt uns der Text aus dem Hohenlied der Liebe ein. Frühlingsgefühle der Liebe stellen sich ein. Die Ungeduld, wenn das Warten zu lange dauert. Oder wenn es meine Kräfte überfordert. Das adventliche Warten ist ein Warten, das meinen ganzen Einsatz benötigt. Es kommt nicht irgendwie dazu zu all den anderen Aktivitäten, die mein Leben ausmachen.

Adventliches Warten beschreibt eine Lebenshaltung. Es ist ein Warten aus Liebe. Aus Liebe zur Welt. Zu den Mitmenschen. Zur ganzen Schöpfung. Und zu Gott. „Steh auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, komm her!“ Und plötzlich wird der kleine Abschnitt aus dem Hohenlied doch ein adventlicher. Und ich wäre mit einem Mal froh, so liebevoll warten zu können. Und von der Warte der Liebe aus auf die Weihnacht zuzugehen.

Eine kleine Geschichte könnte helfen, dieses Warten zu beschreiben. So einfach sie ist, es ist eine meiner adventlichen Lieblingsgeschichten. Ich will sie kurz erzählen:

Ein Mensch erfährt, dass sein Warten ans Ziel kommt. Gott hat seinen Besuch angekündigt. „Zu mir?“ ruft er. „In mein Haus? Das geht nicht!“

Er rennt durch alle Zimmer. Die Treppen hoch. Die Treppen wieder herunter. Er sieht sein Haus mit anderen Augen. „In diesem, Haus ist für Gott kein Platz!“, ruft er. „Zu unaufgeräumt. Zu viel Gerümpel. Zuviel Unnötiges! Keine Luft zum Atmen. Für mich nicht. Und erst recht nicht für Gott.“

Er reißt das Fenster auf. „He, Leute, helft mir. Ich schaff das nicht. Gott will zu Besuch kommen. Aber so kann ich ihn nicht hereinlassen.“ Einer kommt wirklich. Einer hilft ihm. Sie schuften und rennen. Sie räumen und richten neu ein. Es braucht seine Zeit. Der Mensch verzweifelt. „Das schaffen wir nie!“, ruft er. „Das schaffen wir!“, sagt der andere mit freundlicher und gelassener Stimme. Und sie schaffen es. Mit vereinten Kräften.

Als es Abend wird, decken sie den Tisch. „So“, sagt der Mensch, „jetzt kann Gott kommen. Ich warte jetzt auf ihn. Wo Gott denn nur bleibt?“ „Ich bin doch längst da“, sagt der andere und setzt sich an den Tisch. „Komm und iss mit mir!“

Wir warten. Immer noch. Doch „es kommt nicht darauf an, wie lange man wartet, sondern auf wen man wartet!“ Als Liebende warten wir. Und wissen: Gott ist im Kommen. Mehr noch: Gott ist längst da.

Und die Liebe Gottes, die all unser Tun und Verstehen übersteigt, bewahre unsere Herzen und Sinne in dem, der war, der ist und der längst kommt. Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.