Geistlicher Impuls zu Losung und Lehrtext des 6. Mai 2022

06.05.2022

Nein, nicht schon wieder die Losung, habe ich bei der Vorbereitung dieser einleitenden Gedanken gedacht. Es gibt doch auch Alternativen. Um dann trotzdem einen Blick darauf zu werfen, welchem Gedanken, welchem Impuls ich womöglich ausweiche, wenn ich nicht die Losung als Impulsgeber wähle. Und in der Tat: Da springt mich eines der biblischen Themen an, die wahrhaftig nicht ganz oben im theologischen Ranking stehen. Keine leichte Kost so direkt nach dem Mittagessen – mitten am Tag. Das Thema „Gericht“, im Kirchenjahr ganz am Ende platziert – hier taucht es auf mitten in der Osterzeit. Mit einem Vers aus dem biblischen Predigerbuch:

Gott wird alle Werke vor Gericht bringen, alles, was verborgen ist, es sei gut oder böse.

Nein, denke ich, ich schaue jetzt gerade nicht in den größeren Zusammenhang, in der Hoffnung, den Gedanken des Gerichts am Ende doch irgendwie weichspülen zu können. Eigentlich ist das doch ganz tröstlich mit diesem Gericht, denke ich. Und gleich fallen mir genügend ein, die ich gerne vor diesem Gericht Gottes sehen möchte. Was macht der liebe Gott am Ende mit Putin? Und manch anderen auch, denen das Leben ihrer Mitmenschen keinen Pfifferling wert ist.

Und eine Schlagzeile der Boulevard-Zeitung mit den vier großen Buchstaben fällt mir ein, aus dem Sommer 1989, damals als wir die ersten Sprünge in der Mauer zwischen Ost und West fast schon herbeiahnen konnten. Chomeini gestorben – kommt er in den Himmel? So fragte die Zeitung auf ihrer Titelseite. Nein natürlich nicht. Und Putin auch nicht.

Und ich, frage ich mich? Kann ich mir sicher sein, dass ich am Ende nicht mit den beiden und vielen anderen draußen vor der Himmelstür stehe? Luthers Frage nach dem gnädigen Gott fällt mir rettend ein. Und Luthers Antwort auf seine Frage natürlich auch. Gottseidank! Aber der Patriarch steht auf Putins Seite. Aber der steht natürlich ganz sicher falsch. Und ich ahne doch: So einfach geht mir dieser Gerichtsgedanke nicht runter. Und ihn zu predigen ist auch nicht gerade ein einfaches Unterfangen. Man sitzt da allemal als erster Hörer selber unter der Kanzel.

So wundere ich mich nicht, dass ein früherer Prälat unserer Kirche, der zugleich auch Predigtlehrer war, einmal den empirischen Befund veröffentlicht hat, dass badische Lehrvikarinnen und Lehrvikare das Thema Gericht in ihren Predigten aussparen -  was allerdings auch an der Perikopenordnung und nicht nur an den damaligen Lehrvikar:innen gelegen haben mag. Und während ich eher zu mehr Fragen als zu klaren Antworten gelange, fällt mein Blick auf den Lehrtext:

Jeder von uns wird für sich selbst Gott Rechenschaft geben. Darum lasst uns nicht mehr einer den anderen richten.

Zu einer ganzen Reihe heilsamer Klärungen findet ich durch diesen Satz des Paulus aus dem Römerbrief.

1.   Davon, mir über die jenseitige Zukunft Putins Gedanken machen zu müssen, bin ich befreit. Dass einer den andere, eine den anderenrichtet, steht nicht auf unserer geistlichen Agenda – gottseidank!

2.   Rechenschaft ablegen muss auch ich – die Rechtfertigung allein aus Gnaden legt hier keinen Bypass – aber das Urteil muss ich am Ende nicht fürchten. Und das ist doch eine großartige Perspektive!

3.   Für mein Leben hier bin ich zunächst einmal verantwortlich. Muss mich darin üben, gut und böse zu unterscheiden. Und das ist Herausforderung genug. Weil mir am Ende häufig erst einmal nur die Grauzonen bleiben. Aber in diesen Zonen der Uneindeutigkeit, des Versuchens und Irrens, des Wagens und Scheiterns spielt sich mein Leben ab. Die Scheidung der Schafe von den Böcken will ich getrost einem anderen überlassen. Und wenn der am Ende alle auf seine Seite zieht, will ich dem auch nicht im Wege stehen.

Im Wege stehen will ich auch nicht dem weiteren Fortgang dieser Zusammenkunft. Ein Gebet soll die Brücke dahin sein:

Gebet

Lass mich, guter Gott, mutig irren, in der Einschätzung meiner Mitmenschen. Und eher zu groß von ihnen denken als zu klein.

Lass mich, guter Gott, das Risiko der Grauzonen und der ungebahnten Wege nicht scheuen und weiter unterwegs bleiben, auch auf den merkwürdigsten Biegungen – schon um die nächste Ecke könnte das Himmelreich beginnen.

Lass mich, guter Gott, dem Gericht nicht ausweichen - deinem über mich, nicht meinem über die anderen -, weil ich darauf vertrauen darf: Dass du es bist, der mich richtet, ist der Gnade eigentlich schon genug. Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.