Predigt über Kantate VI des Weihnachtsoratoriums von J.S. Bach am 26. Dezember 2022 (2. Weihnachtstag) in der Stadtkirche in Schwetzingen

26.12.2022

Ansprache Teil 1

Was für eine gefährliche Kantate, die wir jetzt gleich hören werden! Und das am friedvollen Fest der Weihnacht. Nein, kein Engelschor, der singt vom „Frieden auf Erden“. Keine Hirten, die sorglos ihre Schafe zurücklassen können, weil sie sich überhaupt keine Sorgen um sie machen müssen. Sie folgen schließlich den Stimmen des Himmels. Kein Stall, der sich am Ende doch noch finden lässt, damit Maria und Joseph zumindest zur Geburt ein Dach über dem Kopf haben.

Nein! Hier in dieser sechsten Kantate des Weihnachtsoratoriums ist alles anders. In ihr geht’s ums Ganze – Sie werden’s merken. In ihr geht’s um eine Auseinandersetzung im ganz großen Stil. Fast ein endzeitlich geprägtes Entweder - Oder.

Kein Wunder, dass sich das auch in der Besetzung des Orchesters widerspiegelt. Mit Pauken und Trompeten – im ganz wörtlichen Sinn – mit ganz großer Besetzung macht sie gleich schon im Eingangschor klar: Auf diese sechste Kantate läuft seit der ersten alles zu. Alle anderen haben irgendwie nur vorbereitet, was jetzt zur Aufführung gelangt.

Erstmalig wurde diese Kantate am Epiphaniastag des Jahres 1735 aufgeführt. Natürlich in Leipzig: Frühe in St. Nicolai und Nachmittage in St. Thomae – wie Bach selber schreibt. Sein Textschreiber war vermutlich wieder Christian Friedrich Henrici, der sich selber lange hinter dem Pseudonym Picander  versteckt hielt. Ganz genau wissen wir das nicht. Sein Name wird in der Partitur nicht genannt. Aber von Bachs Textschreibern konnte es eigentlich nur er sein, der dieser großen Aufgabe gewachsen sein konnte.

Aber jetzt wagen wir’s! Und hören, wie Bach ein großes Thema musikalisch wiedergibt. Und wie gesagt ein gefährliches dazu!

  • Kantate Nr. 54 – 59

Ansprache Teil 2

Eigentlich ist Schweigen angesagt. Zumindest fürs Erste. So anmutig, so innerlich ist dieser Choralstrophe, dass sie mich fast vergessen lässt, worum es eigentlich geht. Sie werden es gemerkt haben – das ist noch nicht die Melodie von „Ich steh an deiner Krippen hier“, die wir kennen. Und die ja auch aus der Feder Bachs stammt. Diese wird aber erst ein Jahr später, im Jahre 1736, veröffentlicht.

In dieser Strophe wird die Quelle besungen, aus der heraus die Kräfte fließen, die es zu dieser Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse braucht. Dieses endzeitliche Drehbuch wird entwickelt entlang einer Geschichte, die für mich zu den schönsten der weihnachtlichen Erzählungen gehört. Die Tradition verbindet sie mit dem 6. Januar, also dem Epiphaniastag oder dem Tag der Heiligen drei Könige, wie viele sagen. Der 6. Januar – das ist ja auch der ursprüngliche Aufführungstag der Kantate.

An diesem Tag steht der Besuch der himmelskundigen Magier aus dem Osten, der Weisen aus dem Morgenland, im Zentrum.  In drei Teilen bringt der Evangelist uns diese anrührende Geschichte zu Gehör. Ihr Ziel ist klar: Die Bedeutung dieses Kindes endet nicht an der Stadtmauer von Bethlehem. Sie bezieht sich auf die ganze Welt. Darum kommen diese Sterndeuter auch von weither. Aus dem Osten. Da, wo morgens die Sonne aufgeht.

Selbst der Himmel ist in Bewegung geraten angesichts der Geburt dieses Kindes. In den Sternen steht zu lesen, wo dieser neugeborene König zu finden sein würde. Doch Sterndeuter genießen wohl einen zweifelhaften Ruf. Es muss doch etwas Besonderes mit diesen Reisenden aus dem Osten haben. Da sie einen neugeborenen König suchen und bei einem anderen König, bei Herodes, nach dem Weg fragen – da müssen sie doch selber auch Könige sein. So einfach hat man sich das gedacht. So einfach wurden aus den Sterndeutern Könige.

Aber die Geschichte der Deutung dieser Weltreisenden geht noch weiter. Sie bringen drei Geschenke mit, Gold, Weihrauch und Myrrhe. Folglich müssen sie zu dritt gewesen sein. Und schon war in der Welt, dass es drei Könige gewesen sein müssen. Das sagen uns alle Erzählungen, die sich um dieen Tag ranken.  dieses Tages Geschichte der drei Könige in der Welt. Bis heute. Und sichtbar gemacht, jedes Jahr aufs Neue, auch in unserer Gegend, am 6. Januar, wenn sie wieder durch den Ort ziehen. Auch durch Schwetzingen.

Doch die Kantate bringt gerade nicht einfach diese schöne Geschichte zur Aufführung. Ihr geht es um die Rolle des Königs Herodes. Aber weniger um ihn als Person. Er war, historisch betrachtet, eher ein wenig bedeutsamer Provinzfürst. Aber an Herodes zeigen sich die Abgründe menschlichen Machtstrebens. Er ist der Prototyp des bösen Herrschers. Und mit einem Mal erscheint er als der, an dem Gott ein Exempel statuiert. Herodes ist der Feind der schnaubt. An ihm werden die „scharfen Klauen“ des Feindes sichtbar– seiner Zerstörung gilt zuerst und zuletzt das rettende Handeln Gottes.

Infam – und im Evangelium auch nachzulesen – wie Herodes die Weisen zu täuschen versucht. Er umgibt sich mit frommem Schein. Arglistig stellt er den Reisenden eine Falle – und nur an dieser Stelle äußert sich eine der handelnden Personen im Weihnachtsoratorium in wörtlicher Rede: „Ziehet hin und forschet fleißig nach dem Kindlein, und wenn ihr’s findet, sagt mir’s wieder, dass ich auch komme und es anbete.“

Die Reaktion lässt nicht auf sich warten. Bachs Libretto-Schreiber Picander ist ein Meister seines Fachs. Nein, es kann eigentlich niemand anders als er gewesen sein. „Du Falscher, suche nur den Herrn zu fällen!“ Und weiter: „Dein Herz, dein falsches Herz ist schon, nebst aller seiner List, des Höchsten Sohn, den du zu stürzen suchst, sehr wohl bekannt.“

Herodes wird zum Prototyp des Menschen ohne Gott. Herodes ist von Falschheit durchsetzt. Ihm gilt die göttliche Initiative, das Böse aus der Welt zu schaffen.

Der letzte Teil der Kantate enthält nichts anderes als eine ausführliche Siegesfanfare – endend in einem fulminanten Rezitativ quer durch alle solistischen Stimmen, ehe - einem Bekenntnis gleich – der Schlusschoral erklingt. Hören Sie selbst!

  • Kantate Nr. 60 – 64

Ansprache Teil 3

Das endzeitliche Drama ist zu Ende. Herodes hat ausgedient. Und mit ihm all diejenigen, die in seiner Nachfolge stehen. Es braucht nicht viel Phantasie, sich all die Namen in Erinnerung zu rufen, die sich zu Handlangern des Bösen haben machen lassen. In der Geschichte. In jedem Jahrhundert. In der Gegenwart. In diesem zu Ende gehenden kriegserschütterten Jahr.

Im Kleinen findet man bei Herodes alles, wodurch sich die Despoten der Gegenwart bis heute auszeichnen. Er baut und baut, auf Kosten anderer. Und um seinen Größenwahl auszuleben und zu befriedigen.

Ein ums andere Mal wechselt er die politische Gesinnung. Das eine Mal unterstützt er Marc Aurel. Das andere Mal Octavian, den wir als Kaiser Augustus kennen.

Seine Macht sichert er sich dadurch, dass er eine Seilschaft der Getreuen um sich schart. Seine Kritiker lässt er mundtot machen und bringt sie um. Selbst seine eigene Frau gehört zu seinen Opfern.

Grausam und brutal wird uns Herodes auch in der Bibel geschildert. Das Kind in der Krippe entgeht der Tötung aller Jungen unter 2 Jahren nur durch die Flucht. Wie gut, dass in Ägypten damals kein Landrat seine leeren Wohnungen und Turnhallen vor Menschen in Not schützen wollte, wie es in den Medien unlängst aus Bautzen berichtet wurde.

Die „Herodesse“ unserer Tage sitzen nur wenige Auto- oder Flugstunden von uns entfernt. Vor unserer Haustür. Sie stecken Journalisten ins Gefängnis. Und sie beschränken die Unabhängigkeit der Gerichte. Sie führen Krieg. Und sie respektieren keine Grenzen.

„Was will der Höllen Schrecken nun
Was will uns Welt und Sünde tun,
da wir in Jesu Händen ruhn?“

Ist das naiv? Schließlich hat es noch kein Zeitalter ohne Herodes gegeben! Herodes hat viele Nachfolger in unseren Tagen! Das Kind und diejenigen, die auf dieses Kind ihr Vertrauen setzten – sie ziehen doch ein ums andere Mal den Kürzeren. Auch Herodes musste um seine Macht nicht fürchten. Er starb im Alter von 69 Jahren, für damalige Zeit hochbetagt. Zerbrochen, was den Menschen zuwider war – mitnichten!

Und doch – der Kampf des Kindes gegen das Böse ist nachhaltig wirksam. Und erfolgreich. Bis heute! Es ist keine Geschichte auf Hochglanzpapier. Eher eine Sammlung von Schnipseln des Widerstehens. Von Lichtfunken des kleinen Glücks. Von Bruchstücken gelingenden Lebens.

Und:  Wir verdanken dem, Kind den Blick über den Horizont. Das Wissen um den archimedischen Punkt, der die Welt aus den Angeln heben kann. Manchmal reichen schon Kerzen, damit ein System zusammenbricht.

Ein Letztes: Das Kind hält Erinnerungen wach, die uns leben lassen. Und die den Mächtigen Angst machen. Die Erinnerung an die Gleichheit und die unantastbare Würde aller Menschen! Die Erinnerung an die menschlichen Möglichkeiten, sich nicht abzufinden. Nicht mit Ungerechtigkeit. Nicht mit Unterdrückung. Nicht damit, dass die einen auf Kosten der anderen leben.

Schon das Kind hat den Mächtigen Angst gemacht. Und die, die sich heute auf dieses Kind berufen, tun dies im Wissen, dass der stete Tropfen auch hier den Stein höhlt. Oder eben die Machtansprüche des Herodes und seiner Nachfolger.

Herodes hat ausgespielt. Und die Nachfolger des Herodes in unseren Tagen auch.

„Tod, Teufel, Sünd‘ und Hölle
sind ganz und gar geschwächt.
Bei Gott hat seine Stelle
das menschliche Geschlecht.“

Deshalb müssen sich die Mächtigen fürchten. Deshalb ist diese Kantate gefährlich. Das Reich des Herodes – es gibt es längst nicht mehr. Und die Reiche seiner Nachfolger – sie werden enden. Auch das des einen, der sich in diesem zu Ende gehenden Jahr angeschickt hat, die Welt nach seinen Plänen neu zu ordnen.

Dieses Kind mit dem Leuchten Gottes in seinem Gesicht – es lässt mich leben! Und es bringt uns zum Singen. An Weihnachten 2022. Und gewiss auch wieder im neuen Jahr! Amen.

 

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.