Wort zum Tag in SWR 2 am 19. Mai 2023

19.05.2023

„Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben.“ Auf einem Auto habe ich diesen Satz entdeckt. Als Aufkleber auf der Kühlerhaube. Er hat mich richtig elektrisiert. Zugleich aber auch irritiert. Meine Kindheit liegt doch hinter mir. An der kann ich doch nichts mehr ändern. Auch wenn’s mich manchmal schon reizt, mir vorzustellen, wie es geworden wäre, wenn ein paar Dinge ganz anders verlaufen wären. Aber eine schwierige Kindheit nachträglich zu einer glücklichen umzumünzen, das geht doch nicht.

Womöglich ist der Satz ganz anders gemeint. Und die Kindheit, von der er spricht, liegt gar nicht hinter mir, sondern vor mir. Dann müsste die Zeit, auf die ich zugehe, etwas enthalten, was ich mit der Kindheit verbinde. Menschen um mich herum, auf die ich mich absolut verlassen kann. Wie damals auf meine Eltern. Die Fähigkeit zu staunen, gerade auch über die kleinen Dinge des Lebens, die uns Erwachsenen längst abhandengekommen ist. Etwas von der kindlichen Unbeschwertheit. Die Fähigkeit, einfach auszuprobieren, was geht.

Dass es nie zu spät ist, eine glückliche Kindheit zu haben - davon hat auch Jesus von Nazareth gesprochen. „Wenn ihr nicht wieder wie Kinder werdet, kommt ihr nie ins Reich Gottes!“ (Matthäus 18,3) Das sagt Jesus, als seine Freudinnen und Freunde von ihm wissen wollen: „Wer ist denn der Größte unter uns?“. Auch das ist eine typische Kinderfrage.  Wenn ich an unsere eigenen Kinder denke, erinnere ich mich gut, wie sie miteinander gerangelt haben. Und ihre Kräfte ausgetestet. Nicht nur für sich selber. Sondern als Bitte an uns als Eltern:„Überschau mich doch bitte nicht! Schließlich bin ich ganz wichtig.“ Kinder leben viel stärker einfach in der Gegenwart. Verstehen das Leben als Spiel. Probieren sich aus. Und finden genau darin erstmal ihr Lebensglück.

„Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben.“ Dem Autofahrer, der diesen Satz wie ein Bekenntnis auf seine Kühlerhaube geklebt hat, gings vielleicht genau darum: auszusteigen aus dem Streit um den besten Startplatz auf der Bühne des Lebens. Und etwas zurückzugewinnen von der kindlichen Art, im Hier und Jetzt zu leben und sein Glück zu finden. Wenn es dazu nie zu spät ist, dann lasse ich es doch gleich heute auf den Versuch ankommen. Ich entdecke etwas vom Glück der späten Kindheit. Und denke einfach nur an das, was heute wichtig ist.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.