Predigt im Gottesdienst am 16. Juli 2023 (6. S.n.Tr.) in der Stadtkirche in Karlsruhe

16.07.2023

Liebe Gemeinde!

Mutmach-Worte! Nach solchen Worten sehne ich mich manchmal – genauso wie der Prophet, um dessen Worte es heute gehen soll. Dabei kennen wir nicht einmal seinen Namen. Wissen nicht einmal, ob es sich um eine einzige Person handelt, die da spricht oder um eine ganze Gruppe. Wir wissen nicht genau, wann der Prophet gesprochen hat. Auch nicht, ob es womöglich sogar eine Prophetin war, die sich da im Auftrag Gottes zu Wort meldet.

Aber die Worte, die haben damals ihre Wirkung nicht verfehlt. Und ihr Nachklang, ihre Nachhaltigkeit, reicht bis mitten hinein in unsere Gegenwart. Und nicht wenigen, die hier Gottesdienst mitfeiern, sind sie längst schon ins Gedächtnis und ins Herz geschrieben.

Hören sie, was dieser unbekannte Prophet den Menschen damals zu wissen gegeben hat – im Auftrag Gottes:

So spricht der Herr, der dich geschaffen hat: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!

Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, und wenn du durch Ströme gehst, sollen sie dich nicht ersäufen. Wenn du ins Feuer gehst, wirst du nicht brennen, und die Flamme wird dich nicht versengen. Denn ich bin der Herr, dein Gott, der Heilige Israels, dein Erlöser.

Ich gebe Ägypten für dich als Lösegeld, Kusch und Seba an deiner statt. Weil du teuer bist in meinen Augen und herrlich und weil ich dich liebhabe, gebe ich Menschen an deiner statt und Völker für dein Leben.

So fürchte dich nun nicht, denn ich bin bei dir. Ich will vom Osten deine Kinder bringen und dich vom Westen her sammeln, ich will sagen zum Norden: Gib her!, und zum Süden: Halte nicht zurück! Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter vom Ende der Erde, alle, die mit meinem Namen genannt sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen und zubereitet und gemacht habe.

Kein Wunder, dass ich mich nach solchen Worten sehne, liebe Gemeinde! Allein schon dieser Paukenschlag am Anfang: „Fürchte dich nicht!“ Wo immer diese Worte zu hören sind, ist Gott mit im Spiel! Den Engeln werden diese Worte in den Mund gelegt. Als ein Engel Maria die Geburt ihres Kindes ankündigt. Als die Engel den Hirten auf dem Feld vor Bethlehem erscheinen. Als ein Engel dem Joseph im Traum erscheint.

Der Auferstandene erscheint seinen Freunden mit diesem Mutmach-Satz, als sie sich hinter verschlossenen Türen in Sicherheit bringen wollen. „Fürchte dich nicht!“ Kaum einen Satz hätten wir heute nötiger!

EG 643,1: Fürchte dich nicht, gefangen in deiner Angst

„Gefangen in deiner Angst!“ - Es sind derzeit keine wirklich guten Zeiten, liebe Gemeinde – Zeiten wie wir sie lange gewohnt waren. In den Tagen, in denen wir zu träge und zu sorglos gewesen sind, um etwas für ihren Erhalt zu tun. Dann hat uns die Gegenwart mit ihren Herausforderungen eingeholt. Die großen Themen kennen sie alle nur zu gut. Ich muss sie nicht aufzählen. Die drei großen „K“s: Krankheit, Klima, Krieg.

Aber es gibt auch all die anderen Themen dazu, die vielen Menschen im ganz Persönlichen zu schaffen machen. Die Kräfte rauben und uns um den Schlaf bringen. Der Verlust lieber Menschen. Beziehungen, die gefährdet sind. Vertrauen, das verloren gegangen ist. Ver-rückte Zeiten, im Großen wie im Kleinen!

Das „Fürchte dich nicht!“ – ich kann es tatsächlich bisweilen hören. Aber oft mischen sich falsche Töne in die Worte. Da wird beruhigt statt bewältigt. Da wird beschwichtigt statt protestiert. Da soll das „Fürchte dich nicht!“ vertuschen, was im Argen liegt, statt verlocken, mit allen Kräften die gewaltigen Herausforderungen anzugehen.

Nach Wortmeldungen wie der des unbekannten Propheten sehne ich mich dann! Nach einem „Fürchte dich nicht!“, das zum Engagement ermutigt. Nicht zum ängstlichen Wegducken.

Nur: Die Worte des Propheten richten sich gar nicht an uns. Sie richten sich an die Menschen seines Volkes im letzten Drittel des sechsten Jahrhunderts vor Christus. Der Perserkönig Kyros löst die babylonischen Könige ab. Und er gibt den nach Babylon Verschleppten Grundbesitzern und Handwerkern die Möglichkeit zur Rückkehr. Ein halbes Jahrhundert hatten sie fern der Heimat leben müssen. Im babylonischen Exil. Manche haben dort nur gelitten. Sie und ihre Nachkommen machen sich dann auch ohne zu zögern auf den Weg zurück. Aber sie müssen in der alten Heimat neu anfangen.

Andere haben gemacht, was auch Jeremia ihnen geraten hatte. Sie haben Häuser gebaut und Familien gegründet. Und sie ziehen das Leben in der neuen Heimat der Ungewissheit eines Lebens in Israel vor. Landsleute des Propheten sind das, die sich nicht mehr im Exil fühlen und da bleiben und einwurzeln, wo sie sind. Und es gibt sie schon damals nicht nur in Babylon. Unter König Kambyros, dem Sohn des Kyros, wird Ägypten entmachtet. Das verspricht auch in und um Jerusalem neue Sicherheit. „Ich gebe Ägypten für dich als Lösegeld!“ Der Prophet wirbt mit diesen Worten aus dem Predigttext für die Rückkehr derer, die das Leben am neuen Ort der Heimkehr vorziehen.

Er wirbt nicht nur um die im Osten. Er wirbt um alle, die das Leben an anderen Orten dem im Land des eigenen Ursprungs vorziehen könnten. Noch einmal erinnere ich an die werbenden Worte des Predigttextes. Aus allen Himmelsrichtungen sollen sie nach Hause kommen!

Ich will vom Osten deine Kinder bringen und dich vom Westen her sammeln, ich will sagen zum Norden: Gib her!, und zum Süden: Halte nicht zurück! Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter vom Ende der Erde

Nicht nur eine einzelne Person, sondern gleich eine ganze Gruppe sei hier am Werk und spricht hier im Namen Gottes, so vermuten manche. Und weil sie sich in der Tradition des großen Propheten Jesaja wähnt, werden ihre Worte dem Jesajabuch angehängt. Wir finden sie ab Kapitel 40 des Jesajabuches. Wir kennen keinen Namen aus dieser Gruppe, auch nicht den eines einzelnen Propheten. Der uns unbekannte Prophet oder die Prophetengruppe trägt darum schon seit dem 19. Jahrhundert den Namen Deutero-Jesaja, „Zweiter Jesaja“!

Jesus hat die Worte dieses Zweiten Jesaja überaus geschätzt. Immer wieder zitiert er aus dessen Worten. So oft, dass manche ihn den Lieblingspropheten Jesu nennen. Das „Fürchte dich nicht!“ des unbekannten Propheten und das des Jesus aus Nazareth, sie entspringen allemal derselben Quelle, dem Glauben an Gott, der dieser Furcht ein Ende machen will.

Nur: An uns sind die Worte dieses Zweiten Jesaja eben nicht gerichtet. Dabei sehne ich mich nach solchen Worten. Und ich bin sicher: nicht nur ich! Ich frage mich: Wie können die Trost- und Mutmach-Worte dieses Propheten zu den meinen, zu den unseren werden?

EG 643,2: Fürchte dich nicht, getragen von seinem Wort

„Getragen von seinem Wort!“ - Die Worte, nach denen ich mich sehne, das sind die, die dem „Fürchte dich nicht!“ unmittelbar nachfolgen. Das sind die Worte, die die meisten hier doch kennen. Das sind diese drei einfachen Sätze, die dafür sorgen, dass nichts mehr so bleibt, wie es war. Dieses:

Ich habe dich erlöst!
Ich habe dich bei deinem Namen gerufen!
Du bist mein!

Ich habe dich erlöst! Was sich anhört wie unverständliche Sprache der Theologie, hat einen ganz handfesten Hintergrund. Der „Löser“, das war die Rechtspraxis zur Zeit des Propheten, kauft unschuldig in materielle Not Geratene aus ihrer Situation heraus. Diese Praxis des Lösens hat gemeint: Jemand wird von Neuem abgesichert. Wird von Neuem mit Freiheit beschenkt.

Ich habe dich bei deinem Namen gerufen! Wer den Namen nennt, macht den Träger oder die Trägerin dieses Namens unverwechselbar. Spricht aus, was ihn oder sie besonders und unterscheidbar macht. Bei einem seltenen Vornamen wie dem meinen spürt man das womöglich noch stärker als bei anderen Namen. Kein Wunder, dass dieser Satz bei uns nicht selten bei Taufen gesprochen wird.

Du bist mein! Du gehörst zu mir! Das beschreibt eine Beziehung. Hier die besondere Beziehung Gottes zu denen, die zu seinem Volk gehören. In diesem Satz haben sich die Menschen schon vor zweieinhalb Tausend Jahren bergen können.

Und doch: Es ist nicht unser Satz! Wir dürfen ihn bestenfalls leihen. Wir dürfen uns in der Nachfolge des Jesus von Nazareth von dessen „Fürchte dich nicht!“ vielleicht ein kleinwenig mit gemeint fühlen. Weil Gott, in dessen Namen der Zweite Jesaja spricht, und Gott, dessen Gegenwart in diesem Jesus präsent ist, derselbe Gott ist. Und weil wir mit unserem Glauben das Wagnis unternehmen, uns ebenfalls auf diesen Gott einzulassen.

Fremd bleiben die Worte des Zweiten Jesaja als nicht an uns ergangene. Und doch nah, weil sie vollgesogen sind von der Sehnsucht nach Zukunft, die dieselbe ist – bis heute.

Es gibt also eine ganze Kette derer, die nach guten Worten suchen. Und die sie in solchen Worten finden, wie sie der unbekannte Prophet und die prophetisch Redenden immer wieder unter die Menschen bringen.

EG 643: Fürchte dich nicht, gesandt in den neuen Tag

„Gesandt in den neuen Tag!“ - Die Geschichte der Prophetinnen und Propheten endet nicht mit dem Zweiten Jesaja. Zum einen gibt es bereits im Jesajabuch selber ab Kapitel 55 die Worte eines Dritten Jesaja. Zum anderen: Die Botschaft des „Fürchte dich nicht!“ ist ja im sechsten Jahrhundert nicht endgültig verklungen. Gottseidank!  Sie erklingt bis heute. Und ähnlich wie beim Zweiten Jesaja wird klar: Prophetische Botschaften müssen nicht von einer einzelnen Person kommen. Es kann auch eine Gruppe sein. Es können Menschen sein, so divers und vielfältig, wie wir Menschen als Bilder Gottes eben sind. Mit Worten, die das „Fürchte dich nicht!“ in die Gegenwart ziehen. Mit Worten, die aussprechen, was Menschen heute daran hindert, dass ihr Leben gelingt.

Die Frage legt sich nahe: Woran erkenne ich, dass Worten eine prophetische Qualität innewohnt? Propheten werden an der Richtigkeit ihrer Worte erkannt. Sie schüren keine Furcht, wie manche das heute so gerne tun. Sie tragen dazu bei, dass der Mut und die Hoffnung wieder die Oberhand gewinnen. Sie treten für Menschen ein, deren Freiheit mit Füßen getreten wird. Sie geben denen einen Namen, die in den Gefängnissen des Despoten verschwinden. Sie machen in ihrem Leben öffentlich sichtbar, dass sie Gott mehr gehorchen und gehören als denen, denen es nur um ihre Interessen geht.

Wo prophetische Worte vernehmbar sind? Sie können sie hören. Mit Ohren, die sich nicht taub stellen. Ich bin sicher: Sie werden fündig! Neue, ungehörte, unerhörte Worte können das sein. Wie: „Macht euch endlich daran, dass dieser unsäglichen Krieg beendet wird!“ Oder: „Setzt euch ein für Gerechtigkeit!“ Und: „Nehmt endlich den Kampf gegen die Klima-Erwärmung auf!“

Es kann auch die Erinnerung an die ganz alten Worte sein, von denen Menschen leben. Wie das „Fürchte dich nicht!“, das mir jemand ganz persönlich zuspricht. Wie das „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen!“ in der Taufe. Wie das „Schmecket und sehet! Wie das „mein Leib, mein Leben – für euch gegeben!“, wenn wir miteinander an Gottes Tisch feiern.  Und dabei Gottes neue Welt prophetisch miteinander vorwegnehmen. Und uns daran erinnern, wie Jesus die Worte des Zweiten Jesaja zu seinen eigenen macht: „Sie werden kommen von Osten und von Westen, von Norden und von Süden, die zu Tische sitzen werden im Reich Gottes.“ Nach solchen Worten sehne ich mich. Und sind allemal Grund genug, miteinander zu feiern. Gleich jetzt. Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.