SWR Kultur Wort zum Tag am 5. Oktober 2024

05.10.2024

Vor einigen Wochen stand ich ganz oben auf einer Schanze. Der Skiflugschanze in Oberstdorf. Sie ist höher als die meisten Kirchtürme. Man steht da oben ganz schön ungeschützt im Freien. Die Schanze ragt schräg wie ein Pfeil in den Himmel hinein, ohne irgendeinen Pfeiler als Unterstützung. Und es ist mir erst nicht leicht gefallen zu entscheiden: Traue ich mich da wirklich hoch?

Ich hab mir ein Herz genommen. Und bin in den Aufzug gestiegen. Oben wurde ich reich belohnt. Der Blick in die Bergwelt ist gigantisch. Am meisten hat mich der Blick vom Schanzentisch nach unten fasziniert. Ich hab mir vorgestellt, wie die, die sich das Skifliegen zutrauen, da auf ihren beiden Skiern herunterrasen. Ich bin sicher, die müssen sich jedes Mal einen inneren Ruck geben. Es muss dann aber auch ein tolles Gefühl sein. Ob im Wettkampf überhaupt Raum bleibt, dieses Gefühl bewusst wahrzunehmen. Ich weiß es nicht.

In Gedanken bin ich dann auch die Anlaufspur hinuntergerast und hab mich in die Luft erhoben. Ein tolles Gefühl! So möchte ich manchmal ins Leben springen. Einfach Anlauf nehmen und dann geht’s los. Und „alles, was uns groß und wichtig erscheint, wird plötzlich nichtig und klein!“ Reinhard Mey hat das vor einem halben Jahrhundert mit diesen eindrücklichen Worten besungen. Für mich ist dieser Schanzenflug über alles hinweg und hinein ins Leben ein schönes Bild. Für das, was ich mit meinem Glauben verbinde. Dem Leben zu trauen und intensiv zu leben. Und dabei irgendwie zurechtzukommen mit dem, was mich in meinem Alltag belastet. Nein, durch den vertrauensvollen Sprung ist nicht einfach alles Schwere weg. Wie der Skiflieger lande ich auch irgendwann wieder auf der Erde. Mitten auf dem Boden der Tatsachen. Aber die Erfahrung des Fliegenkönnens. Der Perspektivwechsel durch den Blick von oben lässt mich auch auf der Erde anders an manche Dinge herangehen.

Das Bild des Fliegens ist gar kein neues. „Mein Glauben lässt mich aufsteigen wie ein Adler“ (Jesaja 40,31) – das beschreibt ein Poet und Prophet der Bibel schon vor zweieinhalbtausend Jahren. Da kannte also schon lange vor mir einer das Gefühl, was ich hoch oben auf der Schanze hatte. Ich bin froh, dass ich mutige genug gewesen bin, ganz nach oben zu fahren. Jetzt kann ich mir zumindest besser vorstellen wie das sein könnte: einfach loszufliegen. Und ein wenig kann diese Vorstellung auch meinem Glauben Flügel verleihen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.