Predigt über 2. Kor. (11,18.23b-30); 12,1-10 am Samstag 19. Juni 2024 im Gemeindehaus Neuendorf und am Sonntag, 30. Juni 2024 in der Inselkirche in Kloster auf der Insel Hiddensee

30.06.2024

Liebe Gemeinde!
„Gott schätzt uns sehr, wenn wir singen! Aber wenn wir tanzen liebt er uns“! Von Augustinus, der vor 1600 Jahren gelebt hat, soll dieser Satz stammen. Er ist diese Woche immer wieder aus meinem Inneren aufgestiegen, als ich die jungen Tänzerinnen und Tänzer von der Gret Palucca Hochschule in Dresden gesehen, bewundert und mit ihrer Ausdruckskunst genossen habe.

Was haben die alles gelernt, was haben die im Kopf, dass sie es in Bewegungen ihrer Beine, in ihren Körper umsetzen können – das habe womöglich nicht nur ich gedacht und empfunden. Doch bei Gret Palucca ist das umgekehrt, was das Verhältnis von Kopf und Beinen angeht. „Ihr müsst mit dem Kopf tanzen und mit den Beinen denken!“ – das schärfte sie ihren Schülerinnen und Schülern immer wieder ein.

Die große Tänzerin und leidenschaftliche Hiddenseeerin – so sehr, dass sie hier begraben werden wollte – sie war so immer ein wenig gegen die Trends und die Tanz-Moden ihrer Zeit eingestellt. Und sie erinnert mich genau darin an einen anderen, der vor 2000 Jahren gelebt hat und dem wir heute unseren Predigttext verdanken. Auch er kannte sich im theologischen Mainstream seiner Zeit bestens aus. Hatte bei Gamaliel, einem der ganz Großen der Theologie seiner Zeit studiert – und stellte diese Theologie noch einmal in ein ganz neues Verhältnis zur Wirklichkeit. Drehte sie um, ganz ähnlich wie 2000 Jahre nach ihm die große Tanzpädagogin Gret Palucca.

Ich wills heute – nach dieser Tanzwoche hier auf der Insel – einfach wagen, diese beiden miteinander in Beziehung zu setzten. Ins Gespräch zu bringen. Anknüpfungspunkte gibt’s eine ganze Reihe. Das beginnt schon bei den Signalen, die die Namen senden. Und bei der schwierigen Zuordnung an einen bestimmten Ort. Denn beide gehören zur Kategorie der mobilen Menschen. Bei Gret Palucca als Frau des 20. Jahrhundert kein Wunder. München, Kalifornien, dann immer mehr Dresden. Aber auch Sylt. Und eben auch Hiddensee. Bei Paulus, der im 1. Jahrhundert gelebt hat, kann einem das schon mehr verwundern. Als Paulus, geboren in Tarsus, in der heutigen Türkei gelegen. Dort lässt er keine Metropole aus, denken wir nur an Ephesos und Kolossä, ehe er sich nach Europa wendet, Thessaloniki, Korinth, am Ende, nicht ganz freiwillig, auch Rom.

Seine zwei Namen verweisen auf seine doppelte Staatsbürgerschaft. Als Saulus ist er Bürger seiner jüdischen Heimat. Als Paulus Bürger des römischen Reiches. Gret Palucca hat sich selber einen neuen Namen gegeben. Als Margarete Paluka, mit „k“ geschrieben, erblickt sie das Licht der Welt. Als Künstlerin verwandelt sie das „k“ in ein doppeltes „c“, ihren Vornamen wandelt sie in das uns bekannte Gret.

Grets Leidenschaft ist das Tanzen. Paulus ist, nach allem, was wir über ihn wissen, wohl kein Tänzer gewesen ist. Er hat seinen Kopf für die leidenschaftlichen Tänze der Theologie genutzt. So sehr, dass er feststellt: „Was ich von Neuem unter die Menschen bringe den einen erscheint’s als purer Unsinn, den anderen als großes Ärgernis!“ Ja er verwendet selber den Ausdruck „skandalon“ – die Theologie des Paulus, ein Skandal!

Ganz so drastisch war’s bei Gret Palucca nicht. Aber auf Argwohn und Missfallen ist auch sie mit ihrer neuen Art des Tanzens immer wieder gestoßen.

(Melodie EG 266 : Der Tag, mein Gott …)
Mein Leben mich das Staunen lehret,
weil Gott das Kleine groß gemacht.
Und manche Menschen, die man ehret,
die hat zuvor man erst verlacht.

Wer mutig neue Wege findet,
sich löst aus alter, bittrer Spur,
erlebt Befreiung, überwindet,
was wirkt als gestrig‘ Regel nur.

Wer so mutig Neues denkt, muss dazu einen inneren Ruf erhalten haben. Wer Kritik und Spott aushält, muss wissen, warum. Bei Paulus ist das sein Bekehrungserlebnis vor Damaskus. Wie in einem inneren Video erscheint ihm Christus, dessen Anhänger er bis dahin verfolgt hat. Mit einem Mal werden ihm die Augen geöffnet. Und er erlebt sich in eine neue Spur gestellt. In einem Brief schreibt er: „Es hat Gott wohl gefallen, mich von meiner Mutter Leib an auszusondern und durch seine Gnade zu. berufen, indem er seinen Sohn in mir offenbart. Von ihm habe ich den Auftrag, die Gute Nachricht von der Menschenfreundlichkeit Gittes unter die Menschen zu bringen.“ (Gal 1,15)

Diese Berufung ist der Ausgangspunkt einer einzigartigen Erfolgsgeschichte, die anhält bis heute! Kein Wunder, dass auch bei Gret Palucca ein solches Erlebnis am Anfang steht. Im November 1919 erlebt sie eine Aufführung der Tänzerin Mary Wigman – für sie, wie sie selber mit einem Begriff aus der Welt der Religion sagt – eine Offenbarung. Deren Tanzgruppe schließt sie sich an. Von ihr beeinflusst tanzt sie auch solistisch. 1925, vor fast 100 Jahren, beginnt sie selber damit, Menschen in ihrem Sinn im Tanzen zu unterrichten. Nicht „hübsch und niedlich“, wie sie sagt, „eher wie von selbst“. Und nicht einer fremden Regel folgend. Sondern aus sich heraus. Seit dieser Woche verstehe ich noch besser, was das meint.

Wer einen Ruf hat, ihm will folgen,
der findet Richtung, Ziel und Sinn.
Der Himmel weit! Jenseits der Wolken,
entdeck ich, was mir bringt Gewinn.

Aus Wegen, die mir zeigt das Leben,
wähl' froh idh, was ans Ziel mich führt.
Vertrau darauf, dass mir gegeben,
was tief im Herzen mich berührt.

Gret Paluccas Erfolg zeigt sich in der Anerkennung und der Kritik. So oder so – sie wird beachtet. Die großen der Kunst gehen bei ihr ein uns aus. Oskar Kokoschka, Paul Klee, Walter Gropius, Victor Klemperer.

Erfolg zeigt sich aber auch in ihren Schülerinnen und Schülern. Ruth Berghaus. Katja Erfurth. Lotte Goslar. Thomas Hartmann. Dietmar Seyffert - um nur wenige der bekannteren Namen zu nennen. Aber auch die, die diese Woche hier auf der Insel getanzt haben, und die, die sie an der Gret Palucca Hochschule unterrichten – sie setzen diese große Tradition bis heute fort.

Auch Paulus wirkt in seinen Schülern nach. Bei ihm wirklich erstmal nur Schüler. Den Frauen hat er theologisch nicht getraut. Sie sollen zu Hause ihre Männer fragen. Aber in den öffentlichen theologischen Debatten schweigen. Damit ist er zu seinen Lebzeiten schon falsch gelegen. Die Ersten, die vom leeren Grab und von Begegnungen mit dem Auferstandenen berichtet haben, waren doch Frauen. Manche brauche eben ihre Zeit, bis sie’s begriffen haben. Nicht einmal die Großen, wie Paulus, sind davor gefeit. Aber Paulus-Schüler gibt’s genug. Schon im Neuen Testament. Timotheus vor allen anderen. Titus. Und die bedeutenden Theologen der Kirchengeschichte, Augustinus, Thomas von Aquin, Martin Luther – sie sind allemal Paulus-Schüler. Und ohne seine Theologie, ohne seine Schriften nicht zu denken.

Beide – Palucca und Paulus – kein Zweifel: Sie sind durchaus erfolgreich. Und an Selbstbewusstsein mangelt es ihnen nicht.  Immer wieder wird er angegriffen. Immer wieder wird seine Mission in Frage gestellt. Paulus ficht das, nicht an. Er schreibt:

„Da viele sich ja gerne selbst rühmen, will ich’s auch tun! Sie sind Abrahams Kinder? Ich auch! Sie sind Diener Christi? Ich rede wider alle Vernunft: Ich bin’s weit mehr! Ich habe mehr gearbeitet, ich bin öfter gefangen gewesen, ich habe mehr Schläge erlitten, ich bin oft in Todesnöten gewesen. Ich bin oft gereist, ich bin in Gefahr gewesen durch Flüsse, in Gefahr unter Räubern, in Gefahr von meinen Landsleuten. Und außer all dem in Anspruch genommen durch mein tägliches Geschäft. die Sorge für alle Gemeinden.“

Paulus ist sich seiner Bedeutung sicher. Er ist unter Druck. Aber er hat Erfolg. Er wird angefeindet. Doch er weiß sich berufen. Von Gott berufen. Und wenn er schon einmal dabei ist, seine Erfolge aufzulisten, wechselt er von den äußeren misslichen Rahmenbedingungen zu seinen religiösen Vorzügen:

„Gerühmt muss werden; wenn es auch nichts nützt, so will ich doch kommen auf die Erscheinungen und Offenbarungen des Herrn, die mir zuteil geworden sind. Ich kenne einen Menschen in Christus – er meint sich selber – der entrückt worden ist. Der seinen Leib verlassen hat und aufgestiegen ist bis in den dritten Himmel.  Er sah mit eigenen Augen das und hörte Worte, die kein Mensch je gehört hat oder gar selber sagen kann. Dass ich der bin, ja dessen will ich mich rühmen. Oder dich auch nicht. Denn wirklich rühmen will ich mich meiner Schwachheit und meiner begrenzten Möglichkeiten. Wenn es anders wäre, würde ich zu Unrecht hochgeachtet. Denn auf meine Stärken kommt es am Ende doch gar nicht an.“

Paulus bricht hier ab. Er ahnt, dass er in Gefahr steht, falsch abzubiegen. Er weiß, dass es nicht um seine Erfolgsgeschichte geht, sondern um den Erfolg Christi. Für ihn setzt er seine Gaben ein.

Wir können uns die religiöse Welt in Korinth – dorthin schreibt Paulus diese Zeilen – wir können uns diese Welt nicht religiös genug vorstellen. Ob religiös oder nicht, das war nicht die Frage. Dies Frage war nicht das „ob“, sondern das „wie“. Und da gab es in Korinth alles, was auf dem Markt der Religionen denkbar war. Eine Metropole war dieses Korinth, mit Einwohnern jenseits der 100.000 Menschen. Eine Hafenstadt, in der sich alle Einflüsse kreuzen konnten. Und sich verweben ließen zu einem neuen bunten Teppich der eigenen Religiosität. Griechisch-hellenistische, jüdische und römisch Religiosität, die alten Kulte mit ihren unzähligen Gottheiten. Die alten Opfer und Festmahle. Die alten Hüter der Weisheit und deren jungen Priesterinnen.

So sehr anders als unsere Welt war Korinth nicht. Nur die Möglichkeit, gar nicht religiös zu sein, das ist eine Erfindung der Moderne. Aber Paulus – da bin ich mir sicher - wäre auch damit zurechtgekommen.

Anfang März konnte ich das, was übriggeblieben ist, vom alten Korinth, einmal selber in Augenschein nehmen. Und auf den Pflastersteinen der alten Prachtstraße gehen, über die Paulus selber sicher auch gegangen ist. Wer etwas auf sich hält, muss sich auch seiner religiösen Erfahrungen rühmen.

Was Festtagsstimmung mir will schenken,
ist längst nicht nur mein eigen Tun
Mit Dank will derer ich gedenken,
die mir zu helfen niemals ruhn.

Was mir gelingt, ist Gottes Gabe.
Ich nehm’s voll Dank aus seiner Hand.
Was ich an Glück zu rühmen habe,
fasst längst nicht immer mein Verstand.

Aber der Erfolg beschreibt immer nur eine Seite im Leben. Von Martin Luther wissen wir: „Wo der liebe Gott ein Haus baut, baut sich der Teufel eines daneben.“ Das ist auch bei Paulus so. Unbeschwert kann er seine Prominenz nicht genießen. Darauf kommt es ihm auch gar nicht an. Er schreibt nach Korinth:

Und damit ich wegen meiner hohen Offenbarungen nicht überheblich werde, ist mir gegeben in Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht übermütig werde. überhebe. Seinetwegen habe ich dreimal zum Herrn gefleht, dass er von mir weiche. Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, auf dass die Kraft Christi bei mir wohne. Denn gerade wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.

Wir wissen nicht genau, was Paulus mit dem Pfahl im Fleisch meint. Vielleicht eine schmerzhafte, chronische Erkrankung, die ihm immer neu zusetzt. Vielleicht auch ein Sprachfehler. Denn er zitiert seine Gegner in einem Brief: „Wenn er schreibt, dann ist er stark. Aber wenn er da ist, predigt er eher kümmerlich!“ Vielleicht womöglich leidet er auch darunter, dass seine jüdischen Mitgläubigen ihm sein Jüdisch-Sein absprechen – obwohl er nie etwas anderes sein wollte als ein gläubiger Jude unter seinen Mitgläubigen.

Aber diese Infragestellung macht ihn auch stark. Er muss sich beweisen. Er muss sich argumentativ durchsetzen. Er muss zeigen, dass sich seine Christusglauben bewährt. Und dass er ihn bewahrt. „gerade wenn ich schwach scheine, dann bin ich stark!“ Wenn man ihm die Luft nehmen will, dann gerät seine Theologie ins Tanzen. Dann zeigt sich, dass wir uns zurecht bis heute an Paulus erinnern. Und von dieser Erinnerung leben können.

Auch Gret Palucca hat ihren Pfahl im Fleisch. Allzu unbekümmert wagt sie während der NS-Zeit den Spagat zwischen den Machthabern und einer, trotz jüdischer Wurzeln, bewahrten künstlerischen Eigenständigkeit. Und in den Jahren ihre Wirksamkeit in Dresden setzt sie diesen schwierigen Spagat fort. Die Literatur über Gret Palucca schwankt hier zwischen heftiger Kritik und durchgehaltener Bewunderung. Und am Ende trägt sie Orden der beiden deutschen Staaten.

„Ich werde tanzen und arbeiten, solange ich die Kraft habe“, sagte sie einmal. „Das ist mein Trost, deshalb ist mir vor der Zukunft nicht bange.“ Gerade wo sie also schwach scheint, bleibt sie dennoch stark. Dass ihre Schule zur Hochschule wird, erlebt sie nicht mehr. Doch dass auch diese Woche hier auf der Insel in ihrem Geist getanzt wird und Menschen sich daran erfreuen, es ist ihr Verdienst.

Dass an diesem Sonntag hier auf der Insel Hiddensee über einen Text des Paulus gepredigt wird – was für eine Kraft der Nachwirkung über 2000 Jahre. Von Gret Palucca bleibt sichtbar der schlichte Stein mit ihrem Nachnamen: Palucca! Über das Ende des Paulus wissen wir nicht viel. Vermutlich hat er in den 60er-Jahren des ersten Jahrhunderts in Rom den Märtyrertod erlitten.

Auf einen Stolperstein, wie es einige auf der Insel gibt, ist Paulus nicht angewiesen. Seine Botschaft von der befreienden Kraft des Glaubens an den auferstandenen Christus ist Stein des Anstoßes genug – bis heute. Und ein Satz des Paulus soll darum auch am Ende dieser Predigt stehen.

„Ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft, die aus Gott kommt und alle glücklich macht, die an sie glauben. Sie macht mich stark. Auch wenn ich schwach bin!“ Amen.

Ich will im Tanz mein Leben wagen,
will denken, danken und vertraun,
mit schwacher Kraft die Hoffnung jagen,
zuletzt Gott selber einst zu schaun.

Gott lässt das Leben mir gelingen,
lässt mich des Alltags Wunder sehn.
Führt mich zum Tanzen und zum Singen.
Ich kann der Zukunft Schritte gehen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.