"Zwischen Kabale und Liebe: Königin Ester - Predigt im Rahmen der Sommerpredigtreihe "Abenteuergeschichten in der Bibel" am Sonntag, 4. August 2024 in der Heiliggeistkirche in Heidelberg

04.08.2024

Hinführung zum Sonntag
Heute ist in der Tradition unserer Kirche der sogenannten Israel-Sonntag. An diesem Sonntag werden wir an die bleibende Verbundenheit der christlichen Kirchen mit den Menschen jüdischen Glaubens erinnert. Erinnert werden wir aber zugleich daran, wie sich diese Geschichte als eine einzigartige Schuldgeschichte entpuppt. Wie Christenmenschen Tod und Verderben über die gebracht haben, denen sie doch ihren Gottesglauben verdanken.

Dass wir das in Zeiten tun, in denen uns die aktuellen Entwicklungen im Nahen Osten, in Israel, in Gaza, auf den Golan-Höhen herausfordern und sprachlos machen.

Von daher passt es gut, wenn es heute um eine Geschichte aus der hebräischen Bibel geht. Eine Geschichte der Rettung und Bewahrung. Eine Geschichte aber auch von Gewalt und Rache. Eine Geschichte, die in der jüdischen Tradition nicht nur erinnert, sondern auch gefeiert wird. Purim!

Dieses Jahr wurde Purim in der jüdischen Welt am 24. März gefeiert. In diesem Jahr vermutlich leiser und zurückhaltender als in anderen Jahren. Wem ist in Israel in solchen Zeiten zum Feiern zumute!

Purim ist eigentlich ein fröhliches, ein lustiges Fest. Purim ist die Schwester unseres fastnachtlichen Vergnügens. In guten Jahren wird gefeiert, getrunken. Die Kinder ziehen ausgelassen durch die Städte und Dörfer. Purim heißt eigentlich Los bzw. in der Mehrzahl die Lose. Was da gelost wird, erzähle ich Ihnen gleich in der Predigt. Von Bedeutung für uns an diesem Israelsonntag ist, dass an Purim – bis heute - Ester gefeiert wird, die Frau, um die es in der heutigen Predigt geht. Die Heldin des kleinen Epos, das wir in der hebräischen Bibel finden. Bevor wir uns zu Ester und mit Ester auf den Weg machen, lade ich Sie ein zum Singen. Mit einem Lied, das zur Ester-Novelle wunderbar passt! Und das sich singt wie ein kleines, neues Glaubensbekenntnis!

NL 173,1-3: Lasst uns den Weg der Gerechtigkeit gehn

Liebe Gemeinde!
„Abenteuergeschichten in der Bibel“! Über dem heutigen Gottesdienst und den fünf nachfolgenden steht dieses Motto. Und es lässt einiges an spannenden Einblicken in die Bibel erwarten. In einer Predigtreihe meist noch einmal aus ganz anderer, neuer Perspektive.

Voller Faszination und Neugier habe ich mich ans Buch Ester gemacht. Und am Ende ist vom Abenteuer nur noch wenig übriggeblieben. Eine hochpolitische Geschichte wird da erzählt. Ein ums andere Mal hat mir der Atem gestockt. Ja, es ist ein Abenteuer zwischen Kabale und Liebe. Aber es ist zugleich ein politisches Lehrstück, wie es gehen könnte. Oder wie es besser nicht geht, wenn man das Ende der Geschichte in den Blick nimmt.

Ich will sie mitnehmen auf die gedankliche Reise mit einem Buch, das so gut wie nie gepredigt wird. Auf die Reise mit einer Frau, die die Fäden zieht und das Heft des Handelns nicht mehr aus der Hand gibt, nachdem sie einmal angefangen hat, sich einzumischen in die Ränkespiele der Mächtigen. Und die mich am Ende doch etwas ratlos zurücklässt, weil ich ihr auf dem letzten Stück Weges nicht mehr folgen will. Und nicht mehr folgen kann. Fassen Sie sich ein Herz. Und vertrauen Sie sich mir an!

Wenn ich dieses Buch mit seinen zehn Kapiteln genauer in Augenschein nehme, beginnt es mit zwei Festen. Und jedes dieser beiden Feste zieht heftige Konsequenzen nach sich. Ich stelle mir vor, ich müsste das Buch Ester als Theaterstück auf die Bühne bringen. Das erste Bühnenbild wäre ein festlich gedeckter, üppig mit Essen und Trinken beladener Tisch mit vielen Plätzen auf allen Seiten.

Oben am Tisch stehen zwei Stühle. Ein Stuhl für den König Ahasveros, vermutlich der persische König Xerxes, der im 5 Jahrhundert vor Christus gelebt hat. Das ganze Buch Ester atmet den Geist persischer Kultur und ist voll von persischen Namen. Prächtig gekleidet sitzt Ahasveros auf seinem Thron. Der Platz neben ihm bleibt leer.

Dieser leere Stuhl erst setzt alles in Gang. Im Buch Ester lesen wir:

Am siebenten Tage, als der König guter Dinge war vom Wein, befahl er seinen sieben Kämmerern, dass sie die Königin Waschti mit ihrer königlichen Krone holen sollten, um dem Volk und den Fürsten ihre Schönheit zu zeigen. Aber die Königin Waschti wollte nicht kommen. Da wurde der König sehr zornig, und sein Grimm entbrannte in ihm.

Alle gehen von der Bühne ab. Der König bleibt allein zurück. Was für eine Blamage! Was für ein Skandal. Königin Waschti beliebt nicht zu erscheinen. Sie führt ihren Mann öffentlich vor. Das muss Konsequenzen haben. Der König befragt seine Ratgeber. Deren Rat ist klar und unumgänglich:

Gefällt es dem König, so lasse man ein königliches Gebot ausgehen, dass Waschti nicht mehr vor den König Ahasveros kommen dürfe und der König ihre königliche Würde einer andern geben solle, die besser ist als sie.

Der König folgt dem Rat. Ein öffentliches Casting-Verfahren soll eine neue Königin auf den Thron bringen. Als einer der Nachkommen der einst von Nebukadnezar nach Babylon verschleppten lebt ein Mann namens Mordechai im Land. Er hat Ester, vermutlich seine Cousine, adoptiert und für ihr Wohlergehen die Verantwortung übernommen. Sie geht als Siegerin aus dem königlichen Spiel hervor: „Mein rechter, rechter Platz ist leer!“ Ester wird die neue Königin. Die Bühne ist wieder voll. Und beide Plätze ganz oben sind besetzt.

Im antiken Theater gibt es einen Chor. Dieser Chor – das sind Sie. Ich habe für Ihren Auftritt einen Text geschrieben. Den haben Sie hoffentlich in der Hand. Ich lade Sie ein, die ersten beiden Strophen zu singen!

1.     Freudenjubel und Festtagsglanz,
Lieder, Reigen und Lichtertanz!
Wo noch gestern das Glück bedroht,
bringt Gott heute das Recht ins Lot,
wehrt der Macht, die nur böse lacht
und ins Unglück zieht. Ich weiß, dass Gott sieht!

2.    Menschenfreundlich und himmelsnah
ist mit einem Mal Zukunft da.
Wo den Geist aus Gott ich erahnt,
ist für mich neuer Weg geplant.
Schritt für Schritt geht die Hoffnung mit
Dass die Grenze fällt hin zu Gottes Zelt.

Auf der Bühne gab es Umbauarbeiten. Jetzt gibt es ein neues, zweites Bild. „Der rachsüchtige Despot“ würde ich es überschreiben. Ein einzelner Mann sitzt an seinem Schreibtisch und arbeitet an einem Dekret. Haman ist sein Name. Er ist nach dem König der mächtigste Mann im Königreich. Und jetzt kann einem wirklich der Atem stocken. Geschichte wiederholt sich. Ein ums andere Mal! Ein Sprecher liest laut vor:

Im ersten Monat, das ist der Monat Nisan, im zwölften Jahr des Königs Ahasveros, wurde das Pur, das ist das Los, geworfen vor Haman, von einem Tage zum andern und von Monat zu Monat, und das Los fiel auf den dreizehnten Tag im zwölften Monat, das ist der Monat Adar. 

Das ist der rabenschwarze Tag. Auf ihn ist das Los gefallen. An ihm soll stattfinden, was als Befehl in alle Provinzen des Reiches geschickt wurde.

Die Schreiben wurden gesandt durch die Läufer in alle Provinzen des Königs, man sollte vertilgen, töten und umbringen alle Juden, Jung und Alt, Kinder und Frauen, auf einen Tag, nämlich am dreizehnten Tag des zwölften Monats, das ist der Monat Adar, und ihr Hab und Gut plündern.

Hier schon tauchen sie auf. Und durch die Jahrhunderte immer wieder. Plötzlich stehen sie alle auf der Bühne: Die Henkersknechte des Haman. Römische Soldaten. Mittelalterliche Stadtbürger. Nazi-Schergen. Mitglieder von Hamas und Hisbollah. Die ganze Bühne ist plötzlich gefüllt. Ihr Rufen wird immer lauter: Weg mit den Juden! Verstehen Sie jetzt, warum mich dieser Text elektrisiert hat. Die unheilvolle Geschichte des Antisemitismus: Das Buch Ester führ mitten hinein in seine Anfänge.

Jetzt sind Sie als Chor wieder an der Reihe! Wir singen die Strophen 3 und 4!

3.     Machtgier und finstrer Herrschaftswahn
lockt die Menschen auf schiefe Bahn.
Wer sich ihnen entgegenstellt,
schafft man rücksichtslos aus der Welt.
Widerstand, Kraft aus Gottes Hand
wendet schnell das Blatt. Gott das Sagen hat.

4.     Wo man über mich Urteil fällt,
hält Gott mich drinnen im Spiel der Welt.
Macht mich stark, dass das Leben blüht.
Neu die Hoffnung auf Bess‘rung glüht,
lenkt den Schritt, Gott geht selber mit
schenkt mir festen Grund, macht die Zukunft bunt.

Erneut ein Szenenwechsel. Auf der Bühne sind jetzt nur der König Ahasveros und die Königin Ester. Sie hatte sich ein Herz gefasst und ihren Ehemann, den König, um eine Unterredung gebeten. Die Sitten waren streng. Wer ohne eine Vorladung beim König erscheint, musste mit dem Tod rechnen.

Ester hat Glück. Und der König gibt sich leutselig. Und Ester erweist sich als kluge Strippenzieherin. Hören Sie:

Da sprach der König zu ihr: Was hast du, Ester, Königin? Und was begehrst du? Auch die Hälfte des Königreichs soll dir gegeben werden. Ester sprach: Gefällt es dem König, so komme der König mit Haman heute zu dem Mahl, das ich bereitet habe. Der König sprach: Eilt und holt Haman, damit geschehe, was Ester gesagt hat!

Ester lädt zum Festmahl. Erneut steht ein prächtig gedeckter Tisch auf der Bühne. An diesem Tisch sitzen der König und die Königin. Und Haman, der Bösewicht. König Ahasveros spürt, dass Ester etwas im Schilde führt. Er fragt nach:

Was bittest du, Königin Ester, das man dir geben soll? Und was begehrst du? Wäre es auch das halbe Königreich, es soll geschehen. Die Königin Ester antwortete: Hab ich Gnade vor dir gefunden, o König, und gefällt es dem König, so gib mir mein Leben um meiner Bitte willen und mein Volk um meines Begehrens willen. Denn wir sind verkauft, ich und mein Volk, dass wir vertilgt, getötet und umgebracht werden. Der König Ahasveros antwortete und sprach zu der Königin Ester: Wer ist der oder wo ist der, der sich hat in den Sinn kommen lassen, solches zu tun? Ester sprach: Der Feind und Widersacher ist dieser niederträchtige Haman! Da erschrak Haman vor dem König und der Königin.

Jetzt ist es heraus. Der König spürt: Es geht Haman nicht darum, die Macht des Königs zu sichern. Haman will die Juden vertilgen. Weil er Mordechai hasst, Esters Adoptivvater. Und weil er die Juden einfach vernichtet sehen will. Weil sie Juden sind. Mit klarem Verstand und festen Plan zieht Ester weiter die Fäden.

Und der Chor stimmt wieder ein. Mit den Strophen 5 und 6:

5.     Esther spinnt ihre Fäden klug,
'weiß, wer sie bisher durchs Leben trug.
Offen legt sie den finstren Plan,
ehe der Feind ersten Mord getan,
stellt ihn bloß, wendet böses Los,
'rät, was allen nützt, weil Gott selber schützt.

6.    Hat der Böse mein Los bestimmt,
dass es all meine Hoffnung nimmt.
Ich fand längst für mich bessres Ziel,
weiß ich doch, wie es Gott gefiel.
stärkt den Schritt und geht selber mit.
Weit mach ich bekannt, wo ich Rettung fand.

Noch ist der Befehl in Kraft, den Haman ins ganze Reich hinein kommuniziert hat. Den gilt es jetzt noch aus der Welt zu schaffen. Ester wendet sich erneut an König Ahasveros

Gefällt es dem König und habe ich Gnade gefunden vor ihm, und dünkt es den König recht und gefalle ich ihm, so möge man die Schreiben mit den Anschlägen Hamans widerrufen, die er geschrieben hat, um die Juden umzubringen in allen Provinzen des Königs. Denn wie kann ich dem Unheil zusehen, das mein Volk treffen würde?

Der König spielt mit. Die Todesdrohung wird außer Kraft gesetzt. Ende gut, alles gut, könnte man sagen. Aber nichts ist gut im Lande des Königs Ahasveros. Nicht nur der Übel wollende Haman wird mit dem Tod bestraft. Nein! Alle, von denen Ester, ihrem Vater und ihren Landsleuten womöglich etwas zu befürchten hätten, werden jetzt selber zum Opfer. Ein Massaker beginnt. Nur mit umgekehrten Vorzeichen.

Die Juden in den Provinzen des Königs kamen zusammen, um ihr Leben zu verteidigen und sich vor ihren Feinden Ruhe zu verschaffen, und töteten fünfundsiebzigtausend von ihren Feinden; aber nach ihren Gütern streckten sie ihre Hände nicht aus.

Das Töten wird nicht besser, wenn es die nach der Meinung Esters richtigen Leute trifft. Es wird auch nicht besser, wenn es die unserem Urteil nach Richtigen trifft. Jedes Menschenleben ist gleich viel wert. Hier kann ich der Spur des Esterbuches nicht mehr wirklich folgen. Hier wird mir Ester fremd.

Aber sie bleibt uns als Stein des Anstoßes erhalten. Ihr Handeln muss uns herausfordern. Es kann Menschen herausfordern. Purim, das Fest des Loses. Es kann zum Nachdenken anregen. Purim kann erinnern an die Ereignisse damals als ein Fest der Befreiung. Auch diese Predigt – sie kann erinnern. Und zum Nachdenken anregen. Dass Purim gefeiert wird, bis heute, das kommt nicht von ungefähr.

Daher nannten sie diese Tage Purim nach dem Worte Pur für Los. Und nach allen Worten dieses Schreibens und nach dem, was sie selbst gesehen hatten und was sie getroffen hatte, beschlossen sie, dass man dieser Tage gedenken und sie halten solle bei Kindeskindern, bei allen Geschlechtern, in allen Provinzen und Städten. Es sind die Purimtage, die nicht übergangen werden sollen unter den Juden, und ihr Andenken soll nicht untergehen bei ihren Nachkommen.

Fragen bleiben. Nach den Ränkespielen der Mächtigen. Auf Kosten derer, die ihnen anvertraut sind.

Fragen bleiben: Ob es denn wirklich keine Alternative gibt, den einen Tod mit dem anderen aufzuwiegen.

Fragen bleiben: Nach Ester! Ob ihr die Rettung der ihren denn nicht hätte genügen können. Ob es dieser weiteren 75.000 Opfer denn wirklich bedurft hätte.

Fragen bleiben: Nach dem Los und der Herausforderung durch diesen schwarzen Tag der geplanten und der umgesetzten Tötung.

Fragen bleiben: Es bleibt die Frage nach Gott! Gott kommt in dieser biblischen Esterer-Erzählung gar nicht vor. Wo ist Gott, wenn das Töten kein Ende nehmen will? Wo ist Gott, wenn Menschen vorgeben, in seinem Namen zu handeln? Und am Ende doch nur eigenen Interessen folgen. Beinahe zweieinhalbtausend Jahre liegen zwischen der Zeit der Estererzählung und der unseren. Haben wir wirklich gelernt? Gelernt Konflikte zu befrieden. Ohne Gewalt. Habe ich wirklich auf Gott gesetzt? Manchmal gegen alle Vernunft.

Fragen, die uns noch einmal zum Singen bringen. Und uns einer Antwort womöglich am Ende doch ein Stückchen näherrücken lassen. Dank Ester. Dank unserem Glauben. Gott sei Dank! Amen.

7.     Purim hält die Erinn’rung wach,
wie Gott selber ein schützend‘ Dach
jenen bot, die der Feind bedroht
und den Ausweg wies aus dem Tod.
Feiert froh diese Tage so,'
dass man weithin hört, wie Schalom Gott schwört.

8.    Dennoch ist da kein Happy end,
wenn der Sieg nur das Töten kennt.
Singt die Lieder des Friedens laut,
dass der Feind uns am Ende traut.
Leben siegt. Und die Hoffnung fliegt
tief in unsre Welt. Gott ist’s, der uns hält.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.