Wort zum Tag in SWR Kultur (ehemals SWR 2) am Samstag, 18. Oktober 2025

18.10.2025

Sieben Weltwunder gab es in der Antike. Eines habe ich jetzt mit eigenen Augen gesehen. Oder genauer gesagt, das, was davon übriggeblieben ist. Ich meine den Tempel der Göttin Artemis in Ephesus. Zu sehen gibt es vor allem noch Teile von Fundamenten, Grundmauern und jede Menge Säulen. Aber ich habe auch eine Ahnung davon bekommen, was das einmal für eine prächtige Tempelanlage gewesen sein muss. Kein Wunder, dass das Bauwerk die Menschen damals so in Erstaunen versetzt hat, dass sie von einem Weltwunder gesprochen haben.

Artemis oder Diana wurde in Ephesus vor allem als Göttin der Fruchtbarkeit und der Natur verehrt. Aber nicht die Verbindung mit dieser Götting hat den Tempel so berühmt gemacht, sondern seine Größe und seine beeindruckende Architektur. 125 Meter war der Tempel lang, 65 Meter breit. Die 127 Säulen waren jeweils 18 Meter hoch. Schlicht übermenschliche Ausmaße! Zumindest aus damaliger Perspektive.#

Ich habe mich gefragt: Was wären denn heute unsere architektonischen Weltwunder? Das Empire State Building in New York? Der Taj Mahal in Indien? Das Ulmer Münster mit seinem höchsten Kirchturm der Welt? Die bauliche Größe allein kann es ja nicht sein! Eher ist es der imposante Gesamteindruck, der dazu führt, ein Bauwerk als Weltwunder zu apostrophieren. Vielleicht auch die Verbindung mit dem Himmel und der Welt der Götter, die über unseren eigenen Horizont hinausweist?

Ich finde, das eigentliche Weltwunder ist der Mensch selbst. Das hat der Apostel Paulus wohl auch so gesehen. „Ihr alle seid selbst der Tempel Gottes!“ schreibt Paulus in Ephesus in einem Brief an die Christinnen und Christen in Korinth. Paulus hat fast drei Jahre in Ephesus gelebt. Er kannte den Tempel der Artemis. Aber am Ende muss er Ephesus verlassen. Weil die Silberschmiede, die dort mit kleinen Artemis-Figuren ihr Geld verdienen, in ihm einen Konkurrenten sehen. Einen, der ihnen das Geschäft kaputt machen will, weil er für einen anderen Gott wirbt. Einen, von dem es keine Figuren gibt. Und dessen größter Tempel der Mensch selber ist. Ein völlig anderes Geschäftsmodell! Dann braucht es eher eine Haltung, ein Verhalten, das diesem Anspruch entspricht. Es braucht den Glauben an den einen Gott, dem ich recht bin. Ohne silbernen Zierrat. Aber wertvoll, weil Gott die Menschen zu seinem Ebenbild gemacht hat. Zu einem Tempel aus Fleisch und Blut. Auch mich. Das ist für mich das größte Weltwunder.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat i.R., Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, Opa, liest und schreibt gern.