"Das Unzeitgemässe geht ein ins Zeitgemässe" - Besinnung am Beginn der Sitzung der Fachgruppe Chöre am 16. Januar 2025
Gestern Abend - wie jede Woche Mittwoch - probt unser ökumenischer Kirchenchor im Freiburger Stadtteil Rieselfeld. Die erste Probe im neuen Jahr. Schon am Vormittag gabs per email die Noten für die abendliche Probe. Vier kleine Stücke für den Karfreitag. Wir steigen ein mit Cydrgg Bardos, „Eli, Eli, lamma sabacthani?“Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Ich zögere. Innerlich auf jeden Fall. Leichter Widerstand. Haben wir nicht eben noch gefeiert, dass Gott die Welt nicht verlassen hat. Dass Gott Mensch wird. Sich einlässt auf diese Welt. Wir sind ja noch mittendrin im Festkreis nach Epiphanias. Unser Krippenensemble zu Hause steht noch. Bis zum 2. Februar wird es stehen bleiben. Im Gottesdienst lasse ich noch EG 66 singen: „Jesus ist kommen“. Am kommenden Sonntag wird der Unichor in Kaiserslautern noch einmal die Kantaten 4-6 des WO zur Aufführung bringen.
Und wir? Wir singen: „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Und wie um mich in meinen inneren Turbulenzen noch mehr zu verwirren, steht ein engagierter Mitsänger auf und wirbt für ein Konzertprojekt an der hiesigen Musikhochschule im Rahmen der Prüfungen: Datum: 1. Februar! Also noch im Epiphanias-Festkreis. Aufgeführt wird: die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach.
Meine emotionale Gestimmtheit meldet sich erneut. Noch heftiger. Als Theologe weiß ich: Die drei christlichen Hochfeste haben datumsmäßig ohnedies ihre eigene Geschichte, sind keine historischen Termine: Pfingsten nimmt Schawuoth auf, das Fest der Gabe des Zehnwortes und der Thora, Schawuot aber hat ein altes Erntefest zum Ursprung. Ostern ist am Datum des Passahfestes orientiert, eigentlich am Frühlingsvollmond. Das Datum des Weihnachtsfestes übernimmt sogar das pagane Fest des römischen Sonnengottes. Wenns‘ halt am Dunkelsten ist, muss das Licht in die Welt kommen!
Natürlich feiern wir das Kirchenjahr nicht wie historische Gedenktage. Wir bewegen uns da terminlich auf eher unsicherem Gelände. Und könnten zudem eigentlich an jedem Sonntag jedes der Feste feiern. Das Kirchenjahr wird vor allem in religionspädagogischer, altmodisch gesagt in missionarischer Absicht gefeiert. Es nimmt eine Aussage, einen inhaltlichen Schwerpunkt zum Thema, fokussiert das Ganze der Theologie und des Glaubens exemplarisch an einem Thema.
Daher kann man auch im Weihnachtsfestkreis schon an die Passion denken. Und entsprechend musizieren. Weihnachten feiert sich immer schon in Richtung der Passion! „Wie soll ich dich empfangen?“ – und in der Melodie erklingt „O Haupt voll Blut und Wunden!“ „nicht ägypten ist der fluchtpunkt der flucht“, dichtet darum der Berner Münsterpfarrer Kurt Marti. „das kind wird gerettet für härtere tage - fluchtpunkt der flucht ist das kreuz“ (aus: Kurt Marti, geduld und revolte. die gedichte am rand, 1984) Also eigentlich immer alles feiern. Gleichzeitig. Ansonsten fehlt etwas. Theologisch ist das mehr als nur legitim. Es ist gewissermaßen geboten.
Wenn wir dem Kirchenjahr musikalisch aber dennoch immer wieder entfliehen, hat das ganz unterschiedliche, meist ganz pragmatische Gründe. WO in einer der großen evangelischen Kirchen in Freiburg schon am 1. Advent – neben anderen Gründen womöglich um der Konkurrenz des Bachchores zu entgehen, der am 4. Advent das WO aufführt. Matthäuspassion am 1. Februar – Prüfungen halt. „Eli, Eli lamma sabacthani?“ am 15. Januar – wir müssen halt mit dem Proben rechtzeitig beginnen. Wir sind schließlich einfach ein Kirchenchor. Wir brauchen Zeit für die Proben.
Nur eines habe ich bisher noch nicht erwähnt. Es gibt auch so etwas wie ein säkulares Festjahr. Wir feiern das Licht eben in der Dunkelheit – von Martini über den Advent nach Weihnachten – wann denn sonst? Wir feiern das neue Leben in Christus passend dann, wenn um uns herum das neu ersprießende Leben so richtig zu spüren ist – wann denn sonst?
Es gibt so etwas wie eine verdeckte Jahresliturgie, der sich selbst die hartnäckigsten Säkularen nicht wirklich entziehen können. Verdeckte Lebenssehnsucht, die sich dann eben in anderen Spielarten manifestiert. In anderen Festkreis-Dialekten artikuliert. Dagegen anzudenken, dagegen anzusingen und anzufeiern ist allemal gewagt. Und auch nicht immer erfolgreich. Aller richtigen Theologie zum Trotz.
Diese liegt mit allen sachlichen, pragmatischen und sonstigen Argumenten im bleibenden Widerspruch. Diese Einsicht muss sich in mir gemeldet haben gestern Abend. Irgendwie möchte ich Weihnachten noch nicht loslassen. Auch wenn morgen der Christbaum eingesammelt wird.
Aber leben heißt ja immer leben in Widersprüchen. Und am Ende konnte ich das „Eli, Eli“ dann auch mitsingen. Ehe ich nach Hause gegangen bin und noch einmal die Kerzen angezündet habe. Einfacher ist das Leben halt nicht zu bekommen.
Was bleibt – dennoch! - als kleines Fazit? Wir dürfen das Unzeitgemäße ruhig ins Zeitgemäße holen und einbrechen lassen. Denn nichts anderes hat sich an Weihnachten ereignet. Die Unzeitgemäßheit Gottes schafft sich Raum im Zeitgemäßen der Welt. Daran will ich denken, wenn wir kommenden Mittwoch weiterproben – und sich bei mir womöglich immer noch ein kleines Grummeln meldet. Passion im Vorgriff – noch ehe Weihnachten wirklich vorbei ist. Und die Gemeinde freut sich am Karfreitag dann sicher auch, wenn wir vorher ordentlich geprobt haben.