Wort zum Tag in SWR Kultur (ehemals SWR 2) am 12. Juni 2025
Ich sitze im Bahnhof von Erfurt am Gleis. Eine Frau setzt sich neben mich. Schnell kommen wir ins Gespräch. Ich erwarte den üblichen kleinen Small Talk. Aber das Gespräch wird sehr schnell sehr ernsthaft. Und mit einem Mal bringt mir die Frau in wenigen Minuten ihre ganze Lebensgeschichte zu Gehör. Es ist die schnellste Lebensbeichte, die ich je erlebt habe. Sie gipfelt in dem Satz: „Die letzten sieben Jahre waren für mich verlorene Jahre.“ Der Frau ist wirklich viel weggebrochen in den letzten Jahren. An materieller Sicherheit. Und an persönlichen Beziehungen. Zu ihrem Mann. Und ihrem Sohn.
Sieben verlorene Jahre? Sofort muss ich an die sieben mageren Jahre in der biblischen Josephsgeschichte denken. Da sagt Joseph dem ägyptischen Pharao voraus, dass auf sieben reiche Erntejahre sieben schlechte, magere Jahre folgen werden. Mit der Konsequenz, dass die Menschen in den sieben fetten Jahren Vorräte anlegen können, von denen sie in den sieben mageren Jahren leben können.
Genau darum war’s mir in dem Gespräch mit der Frau am Gleis gegangen. Mit ihr auf ihre Ressourcen zu schauen, auf die Vorräte aus früheren Jahren, von denen sie jetzt noch zehren könnte. Ganz ohne entlastende Wirkung schien unser Turbo-Austausch dann auch nicht gewesen zu sein. Voll dankbarer Worte hat mich meine Gesprächspartnerin ziehen lassen. Ich fuhr davon. Sie blieb am Gleis zurück. Was für intensive Minuten waren das. Die Bank am Gleis als kurzfristig eingerichteter Beichtstuhl.
Sieben Lebensjahre von dem vernichtenden Urteil zu befreien, sie seien am Ende nur verlorene Jahre gewesen. Ganz fremd ist mir dieses Gefühl nicht. Auch ich kenne Tage, die mir im Rückblick als verloren erscheinen. Wenn ich am Ende eines Tages feststelle, dass das, was ich mir vorgenommen hatte, nicht gelungen ist. Aber dann entdecke ich manchmal doch noch einen Weg, dem Tag etwas abzugewinnen. Auch wenn einiges anders gelaufen, als ich es mir vorgestellt habe. Aber die anderen Spuren, auf die er mich geführt hat, haben womöglich auch ihren Sinn gehabt. Und ein schlechter Tag ist leichter zu ertragen, wenn ich mich erinnere, wie gut der letzte gewesen ist.
Ich müsste, so denke ich, von den Tagen, die mich zufrieden zurücklassen, immer auch etwas in meine kleinen Lebensscheunen einlagern. Um andere Tage besser überstehen zu können. Damit kein Tag ein verlorener bleiben muss.