Wort zum Tag in SWR 2 Kultur am 15. September 2025
Es klopft am Fenster. Weit nach Mitternacht. Wir sitzen noch in kleiner Runde im Wohnzimmer zusammen. Vor dem Fenster steht ein uns unbekannter Mann. Das Licht seiner Stirnlampe schimmert uns entgegen. Meine Frau öffnet das Fenster. Freundlich lächelnd streckt er uns die Zeitung entgegen. „Ich hab gesehen, dass bei Ihnen noch Licht brennt“, sagt er dann. „Da hab ich gedacht, heute drücke ich Ihnen die Zeitung mal persönlich in die Hand!“ Und schon ist er wieder fort. Wir sind sprachlos. Mit vielem haben wir gerechnet. Nur nicht damit, dass der Zeitungsausträger uns die Zeitung persönlich übergibt. Sonst steckt sie ja jeden Morgen zuverlässig im Briefkasten.
Für den Rest der Zeit, in der wir in unserer Runde noch zusammensitzen, ist der Zeitungsausträger unser Thema. Er gehört ja zu der Sorte von Menschen, deren Dienstleistung wir sehr schätzen – und vermissen würden, wenn sie nicht kommt. Die wir aber in der Regel nie zu Gesicht bekommen. Vielleicht hat’s ihn gefreut, einen seiner Kunden mal direkt zu sehen. Die meisten schlafen ja sonst schon. Oder er hat einer spontanen Regung nachgegeben, einfach mal mit einer kleinen Überraschung aufzuwarten. Jemandem etwas Gutes zu tun. Denn gutgetan hat uns die kleine freundliche Geste ja schon.
„Auch wenn’s nur die Zeitung war“, denke ich – „es hatte etwas von einem kleinen Engelsdienst. Er war einfach kurz da, hat kurz Gesicht gezeigt, sich anschaulich, sich erkennbar gemacht. Hat etwas Hilfreiches hinterlassen. In diesem Fall etwas ganz Schlichtes. Lapidares. Und ist dann einfach wieder verschwunden. Aber auf ein ganz kurzes Stück meines Weges hat er sein Licht fallen lassen. Ihm Glanz verliehen. Mehr müssen sie ja gar nicht tun, die Engel. Rudolf Otto Wiemer hat die Engel in einem Gedicht einmal so beschrieben: „Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein, die Engel. Sie gehen leise, sie müssen nicht schrei’n, oft sind sie alt und hässlich und klein, die Engel.“ . Und er dichtet weiter: „Vielleicht ist einer, der gibt Dir die Hand, oder er wohnt neben Dir, Wand an Wand, der Engel.“ Vielleicht ein wenig hochgegriffen, im Zeitungsausträger gleich einen Engel zu sehen. Aber Engel müssen ja nicht gleich die ganze Welt retten. Manchmal reicht es, ein kleines Licht ins Leben eines anderen Menschen fallen zu lassen. Und sei’s nur das einer Stirnlampe.