Predigt im Gottesdienst am 31. Oktober 2025 (Reformation) in der Christuskirche in Freiburg
Liebe Gemeinde!
Was ist typisch evangelisch? Ich frage - Sie und mich - am heutigen Gedenktag der Reformation 2025. 508 Jahre nach den Wittenberger Ereignissen des Thesenanschlags. Auch in diesem Jahr feiern wir wieder Gottesdienst – an einem Werktag, zu einer ungewöhnlichen Tageszeit, abends! Gottesdienst zum Gedenken an einen Anlass, der nicht allein kirchlich, sondern mindestens genauso weltlich Wirkung entfaltet hat - zwischen Krieg und Frieden, zwischen dem Freiheitskampf der einen wie der anderen – freilich aus ganz unterschiedlicher Motivation. Dies heute zu feiern – irgendwie ist das doch typisch evangelisch!
Wir werden gleich auf eine Kantate von Johann-Sebastian Bach hören. Geschrieben für den 13. Sonntag nach Trinitatis im Jahre 1724. Aber mit einer ungemein reformatorischen Botschaft. Schon mit ihrem ersten Wort, dem Wörtchen „allein“, „auf Christus hinstürmend“, um den Bach-Interpreten Rudolf Lutz zu zitieren. Aufbauend auf vier Choralstrophen, deren erste drei von Konrad Hubert stammen. Konrad Hubert ist ein Reformator der zweiten Reihe, heute nur noch wenigen bekannt. Genauso wenig wie seine Choralstrophen, die der Kantate zugrunde liegen – wörtlich im Eingangs- und im Schlusschor. Verarbeitet in den Rezitativen und Arien dazwischen.
Evangelischer Theologe war Konrad Hubert, Mitarbeiter des Reformators Johannes Oekolampad in Basel, und dann über lange Zeit der persönliche Sekretär von Martin Bucer in Straßburg, von diesem als „freundlich und von guter Art“ beschrieben – und nebenher eben auch Prediger und Liederdichter. Dass er im Ortswechsel zwischen Basel und Straßburg das katholische Freiburg wirklich jedes Mal hat umgehen können und wollen, will ich eigentlich nicht recht glauben. Und so hat die heutige Bach-Kantate in ihrem Text womöglich ihre ganz eigene Beziehung zu Freiburg.
Unverkennbar gibt sich Konrad Hubert durch und durch geprägt von einer auf Ausgleich ausgerichteten Spielart reformatorischer Theologie zu erkennen. Am Ende muss Straßburg wieder verlassen. Die Nachfolger Bucers geben einem für ihn viel zu strengen Luthertum den Vorzug. Innerevangelischer Streit – ist das nicht auch typisch evangelisch!
Und überhaupt - auf heute gewendet: Einmal mehr Bach als fünftem Evangelisten - und denen, die ihn zur Auführung bringen - die kirchliche Bühne zu überlassen – Bach predigen zu lassen, mit Orchester, Chor und Solisten – auch das ist doch typisch evangelisch!
Dass wir diesen Gedenktag der Reformation – gottseidank – längst nicht mehr als Tag konfessioneller Überheblichkeit feiern, sondern als Ausdruck eine gemeinsamen, ökumenischen Suchbewegung, als Fest der zugleich mahnenden und Mut machenden Erinnerung an die gemeinsame Verwurzelung im Gottesglauben feiern – und nicht als etwas, das nur uns gehört und das wir nicht teilen wollen – wenn auch das typisch evangelisch ist, wird Gott seine nicht nur klammheimliche Freude daran haben. Dann erklingt jetzt gleich zurecht eine Kantate, die die je eigenen Gottesbedürftigkeit nicht mit Wehklagen zum Ausdruck bringt. Sie tut es vielmehr und unüberhörbar in dankbar-festlicher Grundstimmung.
Eine weitere Frage will ich anschließen. Eine Ordnung der Predigttexte haben wir, die heute, am Gedenktag der Reformation, einen der ganz zentralen Texte des Ersten Testaments, den zentralen Bekenntnistext der Menschen jüdischen Glaubens als Predigttext vorschlägt – theologisch ein Weg auf einem schmalen Grat, auf dem man leicht abstürzen kann – diese durchaus herausfordernde Konstellation - ist sie nicht auch typisch evangelisch - theologisch konsequent oder gerade auch gefährlich, wenn wir diesen Weg fahrlässig oder irgendwie gedankenlos gehen?
Ein paar Verse aus diesem zentralen Text aus 5. Mose 6 will ich lesen – zentraler Bestandteil der Abschiedsrede des Mose an die, die mit ihm vierzig Jahre durch die Wüste gezogen sind:
Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einer. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. Diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst. Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.
Ganz ohne Zweifel: Vor allem anderen sind diese Verse ganz sicher nicht typisch evangelisch. Aber dass wir uns auf sie beziehen, am Ende womöglich doch. Aber nur, wenn wir einen kleinen Umweg in Kauf nehmen.
Wie also könnte das gehen: Festlich dankbar Reformation zu feiern und dem „Höre, Israel“ seine ganz anders ausgerichtete Ausschließlichkeit zu lassen? Eine Brücke bietet der biblische Bezug auf den, der sein Jüdisch-Sein zeitlebens nie in Frage gestellt hat, Jesus aus Nazareth. In einem innerjüdischen Dialog über den gemeinsamen Gottesglauben wird Jesus nach dem höchsten Gebot gefragt. Und er antwortet – nein, nicht typisch evangelisch, sondern typisch für seinen Glauben – mit dem Verweis auf eben diese Worte: Höre, Israel, der Herr ist unser Gott! Und du sollst deinen Gott lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. Aber Jesus fügt noch einen weiteren Satz seines Glaubens hinzu. Ein Satz, in seiner Bedeutung dem eben gehörten gleichwertig, wie er sagt: Du sollst auch deinen Nächsten liebhaben. Denn er ist wie du!
Die ganze Thora, die ganze Weisung Gottes, findet sich in diesen beiden Sätzen. Und nur indem wir uns auf den Juden Jesus beziehen, haben wir das Recht, dieses „Höre, Israel“ auch für uns zu einem relevanten Text zu machen. Er legt offen, wen wir meinen, wen wir von Gott sprechen. Wenn wir diesen Gott lieben wollen mit allen Kräften, mit aller Energie, die uns zur Verfügung steht.
Das Evangelium des 13. Sonntags nach Trinitatis, für den diese Kantate geschrieben ist, war das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Eine ungewöhnliche Wahl. Denn in diesem Gleichnis werden gerade die Gralshüter der religiösen Tradition getadelt. Und die religiösen Unterdogs der damaligen Zeit, die Samariter beispielhaft vor Augen gestellt. Aber nicht als Misstrauensvotum Jesu gegenseine eigene Religion. Sondern dadurch, dass im Gleichnis eine Gefahr beschrieben wird – und zugleich ein Weg, dieser Gefahr zu entkommen. Indem ich meinen Mitmenschen zum Nächsten werde. Geh hin und tue desgleichen – so lässt Jesus sein Gleichnis enden.
Schwer, womöglich zu schwer erweist sich diese Aufforderung Jesu. „Mein Gott, verwirf mich nicht, wiewohl ich dein Gebot noch täglich übertrete!“ Diese Bitte werden wir gleich in der Kantate hören. Und als reformatorische Erläuterung dazu: „Gib mir nur aus Barmherzigkeit den wahren Christenglauben! So stellt er sich mit guten Früchten ein und wird durch Liebe tätig sein!“
„Höre, Israel, der Herr ist unser Gott!“ – diese Worte ermahnen mich, es denen gleich zu tun, an die diese Worte ursprünglich gerichtet sind. Und die bleibende Unterscheidung nicht aus den Augen zu verlieren. Schwierig ist das, allzu schwierig – zumal in diesen auch politisch aufgewühlten Tagen, in denen wir um das rechte Israel-Verständnis ringen. In denen wir neu lernen müssen, Theologisches, Geschichtliches und Politisches recht einzuordnen und zu unterscheiden, ohne in gefährliche Muster zu geraten, die diskreditieren oder gar trennen.
Diese kritische, herausfordernde Funktion theologischen Nachdenkens – auch sie ist typisch evangelisch. Und manchmal eben auch typisch protestantisch. Denn das sagt man uns ja – hoffentlich zu Recht - auch nach. Evangelisch und protestantisch zu sein – in theologischem Nachsinnen und politischem Gestaltungswillen, in Kirche und Welt, im Beten und im Tun des Rechten und Gerechten – dass wir das nicht aus dem Horizont verlieren, daran will dieser Gedenktag der Reformation erinnern. Und uns von Neuem die Wege offenlegen, auf denen uns die Mütter und Väter im Glauben im Geist der Reformation vorausgegangen sind.
Nachspüren können wir diesem Glauben, wenn wir jetzt gleich dem reformatorischen Bekennen von Konrad Hubert Gehör schenken.
Allein zu dir, Herr Jesu Christ,
Mein Hoffnung steht auf Erden;
Ich weiß, dass du mein Tröster bist,
Kein Trost mag mir sonst werden.
Solche Worte des Trostes, sie lassen uns leben!
Auf sie hören wir.
In ihnen gegründet glauben wir -
verbunden mit denen, die diesem einen Gott vertrauen
Verbunden durch den, in dem Gott wurde wie wird.
Verbunden doch auch mit denen, die anders glauben.
Verbunden mit allen Menschen guten Willens.
So zu glauben – auch das ist typisch evangelisch.
Aber längst nicht nur. Gottseidank!
Amen.