Predigt über Markus 4,35-41, gehalten am Sonntag, 9. Februar 2025 (vierter Sonntag vor der Passionszeit) in der Heiliggeistkirche in Heidelberg
Liebe Gemeinde!
Ich lese nur selten ein Buch ein zweites Mal. Und ich schaue mir auch fast nie denselben Film ein zweites Mal an. Meist fehlt mir für das zweite Mal einfach die Lust. Irgendwie meine ich, doch alles schon zu kennen. Warum sollte ich mir das ein zweites Mal antun?
Aber dennoch gibt es Ausnahmen. Wenn’s einer der ganz großen Romane ist. Oder wenn allein schon die Hauptdarstellerin oder der Hauptdarsteller den Film zu einem Erlebnis macht. Manchmal ist auch die Handlung so diffizil, mehrdeutig oder sie lebt von Details, dann muss ich noch einmal hinschauen. Oder zum wiederholten Mal lesen.
Mit den biblischen Geschichten ist es ähnlich. Da gibt es welche, die erkenne ich schon beim zweiten Wort und weiß auch sofort, worum es geht. Da lehne ich mich dann entspannt zurück und warte, ob’s dazu wirklich noch etwas Neues zu sagen gibt.
Schon allein die Überschriften, die wir den Geschichten gegeben haben, weisen da die Richtung. Da reden wir vom „sinkenden Petrus“. Aber da ich diese Geschichte immer wieder Menschen erzähle, denen das Wasser bis zum Hals steht, habe ich plötzlich gemerkt: Die Überschrift ist falsch. Es ist die Geschichte vom Wasser, das trägt.
Oder die Erzählung von der „Speisung der Fünftausend“. Irgendwann wird dann klar. Es geht eigentlich um die wunderbare Brot- und Fischvermehrung durch das Teilen des Wenigen. Wir sprechen vom „ungläubigen Thomas“. Bis sich herausstellt: Es ist die Geschichte von einem, der uns zum Vorbild im Glauben werden kann.
Mit dem heutigen Predigttext ist es nicht anders. Die Geschichte von der „Stillung des Sturms“ heißt sie bei uns. Das ist die Geschichte, die fast jeder, jede hier in der Kirche kennt. Aber es muss sich doch lohnen, ihr wieder unsere Aufmerksamkeit zu schenken. Ihr einen neuen Sinn abzugewinnen. Je öfter ich sie höre und lese, desto weniger bin ich überzeugt, dass es ihr nur um eine Sturmstillung geht. Also spüre ich ihr gemeinsam mit ihnen ein neues Mal nach.
Hören Sie noch einmal, wie alles losgeht:
35Und am Abend desselben Tages sprach er zu seinen Jüngern: Lasst uns ans andre Ufer fahren. 36Und sie ließen das Volk gehen und nahmen ihn mit, wie er im Boot war, und es waren noch andere Boote bei ihm. 37Und es erhob sich ein großer Windwirbel, und die Wellen schlugen in das Boot, sodass das Boot schon voll wurde.
Wind, Wellen, und ein Boot, in dem das Wasser immer höher steigt. Solche Wirbelwinde soll’s geben am See Genezareth, habe ich gelesen. Auch wenn ich selber dort nie einen solchen Sturm erlebt habe. Mir geht der Text anders nah. Er trifft mich in seiner Bildgewalt. Er beschreibt die Gegenwart, wie ich sie derzeit erlebe. Das ist vielleicht die erste Horizonterweiterung in dieser alten, vertrauten Geschichte. Der Windwirbel wütet nicht nur damals. Er wütet genauso auch heute!
Wortgewaltige Stürme, die andere hinwegfegen wollen - mir vom Fernsehen jeden Abend ins Wohnzimmer gespült. Giftiger Schlamm populistischen Herumpolterns. Ein elender Giftmischer auf dem Stuhl der Macht. Und dann die Menschen, über die wir reden, die aber bitte doch irgendwo anders bleiben sollen. Zerbombte Häuser. Plattgemachte Landstriche. Niedergerissene Brandmauern. Die Demokratie – feilgeboten wie verfaultes Obst. Verantwortung fürs Klima – gerade leider nicht im Angebot.
Fast geht mir die Orientierung verloren. Was ist richtig? Was falsch? Wer hat die besseren Lösungen? Gibt es die überhaupt noch? Bin ich auf dem falschen Dampfer? Gibt es immerhin noch ein mehr oder weniger an Wahrheit?
Der Sturm tobt. Fürs Erste. Und wir holen Atem und singen jetzt erst einmal. Das „Lied vom wirkkräftigen Wort“ auf die Melodie von „Should auld aqaintance be forgot“ – zunächst die Strophen 1 und 2!
(Orgel nimmt die Stürme auf und leitet zum Lied über.)
Das Lied vom wirkkräftigen Wort
(Melodie: Should auld aquaintance be forgot / Nehmt Abschied, Brüder, ungewiss ist alle Wiederkehr)
1. Die Welt ist aus den Fugen, Gott,
was einstmals galt, das wankt.
Barmherzigkeit, sie erntet Spott.
Wir fordern viel! Wer dankt?
Das Böse macht sich offenbar,
wir ahnen, was uns droht,
Zerstörung, Willkür und Gefahr.
O Gott, wend‘ unsre Not!
2. Die Wogen schlagen längst ins Boot.
Die Winde haben Kraft.
Das Schiff schon bald zu sinken droht,
wenn niemand Rettung schafft.
Gefährlich wird die Lebensfahrt.
Gefragt ist wacher Sinn.
Wo Zukunft neu errungen ward,
führt Hoffnung zum Gewinn.
Mit dem Sturm, der auf wunderbare Weise zum Erliegen kommt, kann’s nicht sein Bewenden haben. Genauso wenig mit Appellen und der Aufforderung: „Nehmt euch zusammen und seid einander endlich wieder gut!“ Nicht einmal ein trotziges „Du musst halt nur glauben!“ hilft aus der Misere.
Hören wir, wie alles weitergeht! Vielleicht lässt sich dann doch Neues entdecken.
38Und Jesus war hinten im Boot und schlief auf einem Kissen. Und sie weckten ihn auf und sprachen zu ihm: Lehrer, fragst du nichts danach, dass wir umkommen?
Die Jünger, aufgeregt und in Panik. Wie wir! Wie ich manchmal auch angesichts dessen, was da derzeit geboten wird auf den Bühnen der Welt. Übrigens doch auch auf unseren ganz persönlichen, privaten Bühnen. Da geht’s ja in aller Regel auch nicht ohne Stürme ab.
Und da will ich mich trösten oder trösten lassen mit dem Verweis auf den einen, der hilft. Und tröstet. Und verwandelt, was mir zu schaffen macht. Aber dieser eine liegt auf seinem Ruhekissen. Dieser eine schläft.
Das ist dann schon die zweite Horizonterweiterung beim neuen Hören auf diese alte Geschichte! Jesus, den die Jünger, wenn man wörtlich übersetzt, Lehrer nennen – Jesus ist nicht einfach unbeteiligt. Oder sogar untätig. Jesus schläft. Auf einem Kissen. Das einzige Mal, dass sich in der Bibel der Verweis auf ein Kissen findet!
Der ruhige Schlaf des einen gegen die lautstarke, vorwurfsvolle Panik der anderen! Es wäre nicht richtig, den Schlaf als Rezept gegen die wütenden Sturmattacken der Menschenverächter zu verstehen. Aber der klare Kopf, der durchgehaltene Verzicht auf alle Verunglimpfungen und auf populistisches Gebaren, das stichhaltige Argument gegen die inhaltsarme Wut – das könnte uns der schlafende Jesus aus dem Kissen schon lehren wollen. Meist lässt sich das Gegenteil beobachten. Vor allem in den wüsten Sätzen in vielen sozialen Medien.
Aber der Verzicht auf Geschrei und laute Aufgeregtheit allein macht dem Sturm noch kein Ende. Jesus schläft nicht durch bis ans andere Ufer. Jetzt erst folgt seine Reaktion, die Worte, die mir – und nicht nur mir - sofort einfallen, wenn es um diese Geschichte geht. Hört also:
39Und Jesus stand auf und bedrohte den Wind und sprach zu dem Meer: Schweig! Verstumme! Und der Wind legte sich und es ward eine große Stille. 40Und er sprach zu ihnen: Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben?
Es ist das rechte Wort zur rechten Zeit, das Jesus findet. „Schweig! Verstumme!“ Etwas vom Unaufgeregten dieser Worte finde ich wieder in der Predigt der anglikanischen Bischöfin Budde Im Gottesdienst anlässlich der Einführung von Präsident Trump! Ganz ruhig und still ist ihre Stimme. Kein Schreien wie die um Stimmen Kämpfenden auf Marktplätzen und Parteitagen: „Ein Appell, Herr Präsident: Millionen Menschen setzen ihr Vertrauen in Sie. Sie erwähnten die schützende Hand Gottes. Ich bitte Sie, Erbarmen zu haben mit allen Menschen in unserem Land, die Angst haben.“ Diese Worte haben dem Sturm produzierenden Präsidenten erstmal die Luft aus den Segeln genommen. Millionen Menschen weltweit hat sie beeindruckt.
Jesus tadelt den mangelnden Glauben seiner Jünger. Für mich hat es fast etwas Überhebliches an sich. Der, dem sogar die Sturmgewalt weicht, spricht seinen verängstigten Jüngern ihren Gauben ab. Jesus hat gut Reden. Ja, im Sinne des Wortes. Jesus redet gut. Und Gutes. Er legt offen, was Glauben eigentlich meint. Sich nicht mitreißen lassen vom allgemeinen Furchtgetöse. Sondern das rechte Wort wagen. Und darauf setzen, dass der Sturm ein Ende hat. Jeder Sturm. Der damals. Und unsere Stürme heute. Von wo auch immer sie herkommen. Womöglich ist das die dritte Horizonterweiterung. – Wir singen die Strophen 3 und 4!
(Die Orgel intoniert das Zusammenfallen des Sturms durch das Machtwort des einen und leitet zum Lied über.)
3. Wo klares Wort dem Bösen wehrt,
stößt es an Grenzen schnell
und Gegenkräfte, schnell vermehrt,
machen das Dunkel hell.
Ich trau dem Mut, der Grenzen schiebt,
kann neue Ufer sehn.
Wer Gottes große Freiheit liebt,
wird neue Wege gehn.
4. Der Glaube ändert meine Sicht.
Ich bleib nicht zögernd stehn,
geb‘ neuem Horizont Gewicht,
lass meine Ängste gehn.
Der Stürme Toben sanft vergeht,
das Wasser atmet leis.
Ich wähle, was mir offen steht:
den Weg ins Paradeis!
Jetzt erst findet die Geschichte zu ihrer eigentlichen Botschaft. Hören wir auf ihr Ende:
41Und sie fürchteten sich sehr und sprachen untereinander: Wer ist der, dass ihm Wind und Meer gehorsam sind!
„Wer ist der?“ Das ist die entscheidende Horizonterweiterung. Das ist die Pointe der Geschichte. Nicht der Sturm, der zum Schweigen kommt. „Wer bist du?“ Das sei, so Dietrich Bonhoeffer, die allein angemessene Frage, im Blick auf diesen Jesus. „Wer bist du?“ Die Antwort ist für die Jünger damals eine andere gewesen als für die Menschen zur Zeit von Bonhoeffer. Denn er formuliert in einer Vorlesung: „Was heißt es, wenn der Proletarier in seiner Welt des Misstrauens sagt: Jesus war ein guter Mensch? Es heißt, dass man zu ihm kein Misstrauen zu haben braucht. Der Proletarier sagt nicht: Jesus ist Gott. Aber mit dem Wort von dem guten Menschen Jesus sagt er jedenfalls mehr, als wenn der Bürger sagt: Jesus ist Gott. Gott ist für ihn etwas, was der Kirche angehört. Aber in den Fabrikräumen kann Jesus gegenwärtig sein als der Sozialist; in der politischen Arbeit als der Idealist; im proletarischen Dasein als der gute Mensch.“
Jesus, der gute Mensch. Der, der gut reden hat. Und Gutes redet. Der die Stürme zum Verstummen bringt. Und uns mit Gott in Verbindung hält. Wer bist du? Diese Frage ist nicht einfach mit einem Satz richtig zu beantworten. „Wer ist der, der uns heute den Horizont erweitert hat, für mich? Für Sie?“
Wer ist der, dessen Gegenwart wir jetzt gleich feiern, wenn wir eingeladen sind an seinen Tisch. Brot und der Saft der Trauben ist er. Nah und doch verborgen. Vertraut und ganz anders. Gott und Mensch. Geheimnis und Offenbarung.
Es ist diese letzte Antwort, die Sie sich heute selber geben müssen. Oder sich schenken und zusprechen lassen. Es ist die Sonntagsfrage – ohne dass richtig oder falsch von vornherein feststünden. Für mich ist er der, der sein Menschsein auf Gott hin durchschaubar, transparent macht. Der mir Mut macht gleichermaßen zum Schlaf und zum alles verändernden Wort. „Wer ist er?“ – Oder noch besser: „Wer bist du?“ Und die Antwort macht den Horizont von Neuem weit.
Darum muss ich diese Geschichte mehr als nur zweimal lesen. Amen.
5. Mein Handeln ist ganz neu gefragt,
mein Widerspruch, mein Nein.
Wohin die Ängste mich gejagt,
muss ich längst nicht mehr sein.
Die alten Stürme geben Ruh,
die neuen halt ich aus,
wend‘ mich mit Gott den Menschen zu,
find‘ Schutz im Schöpfungshaus.
6. Geladen bin ich an den Tisch,
den Gottes Fülle deckt:
fünf Brote einst und zweimal Fisch!
Die Sehnsucht ist geweckt
nach Leben, das Gott selbst bewahrt,
in Stürmen, die mir droh’n.
Mit Brot und Trauben, nicht gespart -
im Fest winkt Gottes Lohn!
(Text: Traugott Schächtele – Februar 2025)