ANSPRACHE ZUR TRAUUNG VON
VERONIKA RINGELMANN UND WOLFGANG BECKE
AM 31. DEZEMBER 2004 IN DER FRIEDENSKIRCHE

31.12.2004
Liebe Veronika,
lieber Wolfgang!

Nun ist diese entscheidende Tür für euch tatsächlich aufgegangen! Und es ist die Tür in einen neuen weiten Raum – zuallererst für euch beide. Aber dann doch auch für uns alle, die wir euch heute auf diesem Weg begleiten dürfen.

Es ist eine überraschende Tür, die sich da aufgetan hat. Für viele von uns überraschend. Die Eltern, die Geschwister. Freundinnen und Freunde. Alle, die sich heute mitfreuen und die hete mitfeiern. Überraschend aber eigentlich doch noch viel mehr für euch, die ihr in relativ kurzer Zeit schon so viel Unglaubliches und Bestaunenswertes hinter dieser Tür entdeckt und erlebt habt.

Man kann es auch umgekehrt sagen: Die Erfahrungen der letzten beiden Jahre waren für euch beide so dicht, so umwälzend und innovativ, so von Neuem, von Neuanfängen, ja von Zuversicht und Zukunftshoffnung durchdrungen, dass sich für euch das Bild der Tür als Symbol einfach aufgedrängt hat. Oder genauer noch: das Bild der Türen, also in der Mehrzahl. „Wir öffnen unsere Türen“ – so stand’s vorne auf der Einladung zum heutigen Fest zu lesen.

Es sind eben verschiedene Türen - deine, liebe Veronika, und deine lieber Wolfgang - die ihr geöffnet habt im Blick auf diesen heutigen Tag. Türen zugleich auch, durch die heute nicht nur ihr tretet, sondern als Eingeladene wir alle.

Türen sind ohnedies eine Erfindung des lieben Gottes. Von ihrer Beschaffenheit her undurchlässige Wände oder Mauern erweisen sich als nicht einfach nur trennend, wenn man die Tür entdeckt. Man kann sie hinter sich zumachen. Aber eben auch wieder öffnen. Türen trennen und schützen. Aber genauso verbinden sie auch. Altes mit Neuem. Bewährtes mit neu zu Entdeckendem. Bekanntes mit Unbekanntem.

Im Kirchenjahr haben wir dies gerade so erlebt. Und im Kalenderjahr stehen wir gewissermaßen schon mit einem Fuß im Türspalt. Das Weihnachtfest, das wir gerade vor einer Woche gefeiert haben, ist ja ganz besonders ein Fest der geöffneten Türen. Nicht nur der vielen Begegnungen und Besuche wegen, die dieses Fest zum Anlass haben. Nein, auch im engeren theologischen Sinn. Der Advent ist die große Zeit des Wartens. Und das Lied „Macht hoch die Tür“ das Adventslied schlechthin.

Und an Weihnachten feiern wir eben genau dies: Dass die Türen unseres Lebens sich öffnen, weil Gott in diesem Kind in der Krippe die Tür zu uns geöffnet hat. Die Erinnerung an die Weihnachtsfeste der Kindheit – als sich die Wohnzimmertür an Heiligabend endlich geöffnet hat und die brennenden Christbaumkerzen das Zimmer in ein neues Licht getaucht haben. Diese Erinnerungen spiegeln etwas wieder von der weihnachtlichen Erfahrung der neu geöffneten Lebenstüren. Kein Wunder, dass sich dieses Bild als Bild der wieder offenstehenden Tür des Paradieses an zentraler Stelle auch wieder in den weihnachtlichen Liedern findet: „Heut schließt er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis.“ Weihnachten also: das Fest der geöffneten Tür. Das Fest des Übergangs vom überwundenen Alten in das Zukunft ermöglichende Neue.

Wie dieser 31. Dezember das alte Jahr 2004 zum Ende bringt. Und uns vor die große Aufgabe stellt, dem vor uns liegenden neuen Jahr Gesicht zu geben. Die noch leeren Seiten zu beschreiben. Dabei wäre es ein verhängnisvoller Irrtum, wenn wir glaubten, wir könnten tatsächlich – wie es so schön heißt – „bei Null“ anfangen. Das geht nicht. Wir können das Alte zu Ende bringen. Aber nicht einfach ablegen. Wir können nach neuen Wegen Ausschau halten. Aber immer in Fortsetzung und Fortschreibung der Alten. Wir nehmen die alten Fragen mit. Aber können uns auf sie einlassen in der Gewissheit, dass wir nicht zum Stillstand verdammt sind. Dass sich das anscheinend Unabänderliche verwandeln lässt. Zum Neuen, Ungeahnten. Und wir bringen die große Hoffnung auf Unerwartetes, bisher Ungelebtes und nicht einmal Erahntes mit. Eine Tür, ein Übergang der uns Mut macht und der unsere Sehnsucht wach halten und stärken will.

Gerade in diesem Sinn ist dieser heutige Tag – dieses heutige Tag eine Tür. Und dieses Fest eurer Hochzeit ein Schwellenritual. Angesiedelt eben genau am Übergang zwischen alt und neu. Oder eigentlich schon leicht im Neuen. Ein Fest zugleich des Zusammenfließens zweier geprägter Lebensgeschichten. Denn längst haben euch eure Lebensläufe – im wahrsten Sinne des Wortes – geprägt. Euch Kontur und Profil gegeben. Euch Erfahrung und Anerkennung zu Teil werden lassen. Euch an manchen Zielen nähergebracht. Euch aber auch unvermeidlich Wunden und Narben zugefügt.

Und euer beider Lebens-Ströme werden auch in Zukunft eigene Ströme bleiben. Aber doch in neuer Weise. Untrennbar ineinander und miteinander verwoben. Zusammenfließend. Sich ergänzend. Bereichernd. Auch miteinander konkurrierend. Sich Wege manche Wege künftig versagend. Aber vielmehr doch auch: Neue, ungeahnte Wege eröffnend.

Eigentlich ist das für euch gar nichts Neues. Lebensgeschichten zu entdecken. Leben zu fördern. Vor allem junges Leben. Das Leben von Kindern vor uns während der Schulzeit. Das beschreibt eine Hauptlinie in eurem Leben. Die Pädagogik in jeweils unterschiedlicher Ausprägung. Aber getragen von gemeinsamen Grundüberzeugungen. Hoffnungslinien anlegen. Und angelegte stärken und ausziehen. Darin habt ihr schon viel von eurer Kraft investiert. Angefangen bei Kindern im Kindergarten. Oder auch im Kindergottesdienst bei Dir, liebe Veronika, lange Zeit hier in der Friedensgemeinde. Oder bei Dir, lieber Wolfgang, bei unzähligen Schülerinnen und Schülern an verschiedenen Orten. Zuletzt ganz neu hier in der Nähe in Denzlingen. Aber auch in der Ausbildung von neuen Lehrkräften.

Ein schöneres Lebensthema wie ihr beide kann man eigentlich gar nicht haben. Und keine bessere Voraussetzungen, um diese beiden Lebensläufe zusammenfließen zu lassen. Menschen, jungen Menschen zumal, Zukunft ermöglichen. Das ist die kostbarste und zugleich schwierigste Aufgabe, die uns aufgetragen ist.

Und nun seid ihr beide mit einem Mal von diesem Thema noch einmal in ganz anderer Weise betroffen. Ganz existentiell. Und jetzt eben gar nicht nur im Blick auf andere Menschen. Sondern für euch selber. Ihr wollt eure Zukunft als eine gemeinsame gestalten. In all eurer Unterschiedenheit. Mit all den unterschiedlichen Voraussetzungen. Aber mit einem gemeinsamen Horizont. Ausgerichtet an gemeinsam entwickelten Perspektiven. Beflügelt von gemeinsamen Hoffnungen.

Aber ihr wisst sehr wohl, dass die Sehnsucht danach und der Wille zu dieser Gemeinsamkeit das eine sind. Die Umsetzung, die gelingende Gestaltung aber noch einmal etwas anderes. Zwei Möglichkeiten, das Wagnis dieses Weges dennoch riskieren zu können, sind dem Liedblatt zu entnehmen – auf der Innenseite, wenn man die Türen geöffnet hat.

Zum einen finden sich da die Kopie einer Bildkarte. Zwei Pfeile streben zielgerichtet auf eine Tür zu. Hinter dieser Tür wartet eine wolkige, luftig leicht anmutende Zukunft, dargestellt in einem weißen Gebilde, das an Wolken erinnert oder auch an eine Taube. Etwas vergleichbar den blauen Wolkenfetzen hinter mir an der Wand. Kein Wunder, dass diese Karte euch angesprochen hat. Und sie euch wertvoll und aussagekräftig genug erschien, sie uns allen zumindest in Andeutungen vor Augen zu führen.

Das zweite Deutungsangebot eures Weges habt ihr selber zentral in der Mitte des Liedblattes angeordnet und festgehalten. Den Ausspruch Jesu:

BITTET, SO WIRD EUCH GEGEBEN.
SUCHET, SO WERDET IHR FINDEN.
KLOPFET AN, SO WIRD EUCH AUFGETAN.

DENN WER DA BITTET, DER EMPFÄNGT.
UND WER DA SUCHT, DER FINDET.
UND WER DA ANKLOPFT, DEM WIRD AUFGETAN.


Drei kleine Sätze. Sätze, die eine Anweisung zum Türöffnen enthalten. Und eine einfach dazu. Jeder Satz ist gedoppelt. Einmal steht er als Aufforderung da: Eben: Klopft an, dann wird euch aufgetan. Und dann als Zusage und Vergewisserung: Wer anklopft, dem wird aufgetan.

Unserer Lebenserfahrung entspricht das nicht unbedingt. Abgesehen davon, dass wir das Klopfzeichen längst durch elektronisch geschaltete Klingel- und Tonsysteme ersetzt haben. Aber das meine ich gar nicht. Es ist die Erfahrung selber, die längst nicht immer die unsere ist. Wie oft warten wir vergeblich, dass sich die Tür öffnet. Wie oft erweisen sich die Hoffnungen als trügerisch. Weil sich die große Chance eben nicht bietet. Und die Tür zubleibt. Wie viele Lebens-Türen erst hat die große Flut vom zweiten Weihnachtstag einfach zugeschlagen. Für immer. Zumindest nach unseren Maßstäben. Denn unsere große Hoffnung ist doch bleibend die, dass die Abertausende von Menschen hinter diesen zugeschlagenen Lebenstüren nicht tiefer fallen als in Gottes Hände. Und dass der Glaube Bestand hat, dass Gott die geöffneten Türen liebt.

Gut, dass wir heute an eurer Erfahrung der sich öffnenden Türen Anteil haben. Dass wir das Fest der geöffneten Türen mit euch feiern können. Denn eine Kraft gibt es, der keine noch so verschlossene Tür auf Dauer Stand hält. Die Kraft – oder das Geheimnis – das wir Liebe nennen. Dieses Wunder, das wir erleben, aber das wir nicht erklären können. Weil es ein Wunder ist und ein Wunder bleibt. Und eine Tür zugleich, die uns immer wieder neu auch den Blick ins Paradies ermöglicht.

Wo die Liebe klopft, da öffnen sich die Türen. Und da bleiben sie auch offen. Ja, da werden Türen mit einem Mal unwichtig. Weil da ganze Mauern und Wände einstürzen. Und unser Lebensraum auf einmal hell und weit wird. Und das Leben selber über uns hereinbricht. So wie es über euch hereingebrochen ist. Und euch aus vertrauten Bahnen geworfen und neue Ziele vor Augen gestellt hat.

“SIEHE, ICH HABE VOR EUCH EINE TÜR AUFGETAN. UND NIEMAND KANN SIE MEHR ZUSCHLIESSEN.“

Diesen Satz kann man im letzten Buch der Bibel – in der Offenbarung – nachlesen.

Das dies die Offenbarung dieses Tages und eurer Liebe ist, das spüren wir alle. Und nichts ist euch mehr zu wünschen, als dass es auch die tragende Erfahrung eurer Zukunft und eurer Liebe bleibt. Damit ihr immer neu und durch immer neue Türen miteinander gehen könnt.

Und Gott möge euch immer wieder überraschend entgegenkommen. Eure Liebe nähren. Sie ausstrahlen lassen und sie ansteckend halten für die, die mit euch leben. Die euch aus vielen Türen entgegenkommen. Und die mit euch das Fest des Lebens und das Fest der Liebe feiern. Und die mit euch das Lied von den in sich zusammengefallenen Wänden und den geöffneten Türen singen wollen. Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.