ANSPRACHE
ZUR ORDINATION VON MARKUS FRANKE
AM SONNTAG, DEN 9. OKTOBER 2005 (20.S.N.TR.)
IN HINTERZARTEN

09.10.2005
Lieber Herr Franke,

dieser heutige Tag ihrer Ordination erfüllt mich mit besonderer Freude und Genugtuung. Gleich im ersten Jahr meiner Amtszeit als Dekan haben sie den Kontakt mit mir gesucht. Und seit dieser ersten Begegnung war es mein Wunsch und zugleich meine große Hoffnung, in nicht allzu ferner Zukunft das Fest ihrer Ordination mitfeiern zu können. Schon damals war ich überzeugt, dass dies der richtige Weg für sie ist. Umso größer ist nun meine Freude und zugleich auch meine Dankbarkeit, dass Sie mir diese schöne Aufgabe der Ordination zugedacht haben.

Mit diesem heutigen Tag ihrer Ordination kommt ein langer Weg ans Ziel. Ein Weg, der nicht wie eine Gerade die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten gesucht hat. Ein Weg voll von scheinbaren Verzögerungen. Voll von Biegungen, die Umwege nötig gemacht haben. Und doch im Rückblick zugleich ein Weg voll von prägenden Erfahrungen und horizonterweiternden Begegnungen. Ihr ganz persönlicher Weg eben.

Im Rückblick auf diese Wegstrecke haben sie selber ein Modell der Bewertung gewählt. Wenige Worte aus dem 31. Psalm beschreiben eine Möglichkeit des Rückblicks, die es schwer macht, hier überhaupt noch in rechter Weise eigene Worte anzufügen. Da stehen also in der Einladung zu diesem heutigen Fest ihrer Ordination folgende bekenntnisgeladenen Deuteworte aus dem 31. Psalm zu lesen:

„...DU STELLST MEINE FÜSSE AUF WEITEN RAUM.
ICH ABER, HERR, HOFFE AUF DICH UND SPRECHE:
DU BIST MEIN GOTT!
MEINE ZEIT STEHT IN DEINEN HÄNDEN.


Drei kleine Sätze nur. Und doch zugleich mit zwei bis an den Rand mit Sinn gefüllten zentralen Stichworten angereichert: Raum und Zeit. Schließlich sind es Raum und Zeit, die bekanntermaßen die Koordinaten unserer Lebensgestaltung abgeben.

Zunächst also: der Raum! „Du stellst meine Füße auf weiten Raum!“ Das Bild vom weiten Raum lässt sich zunächst auf die zeitlichen Dimension dieses Wege hin zur Ordination beziehen. Und er qualifiziert die Stecke dieses Weges gerade nicht als Weg der Verzögerung. Er beschreibt sie zunächst überhaupt nicht in zeitlicher Hinsicht. Er sieht dadurch einen Raum beschrieben. Einen Raum in der Mehrdimensionalität ihres Lebens. Einen Raum zur Ermöglichung der Wahrnehmung und der Pflege ihrer ganz besonderen, je eigenen Gaben.

In zwei Richtungen hin haben sie diese Gaben ausbilden und entwickeln können. Zum einen in den Erfahrungen im Birklehof. Erfahrungen, die nicht nur auf das Feld der fachbezogenen religions-pädagogischen Verantwortung zu beziehen sind. Sondern zugleich auch in Anteilnahme am gesamten Konzept in den Herausforderungen einer ganzheitlichen und zur Selbstständigkeit befähigenden Persönlichkeitsbildung. Sie haben sich in dieser Rolle und bei dieser Aufgabe Achtung und Wertschätzung erworben. Und das mit einem Fach, dessen unverzichtbare Selbstverständlichkeit immer wieder neu unter Rechtfertigungsdruck steht.

Die andere Richtung, die in besonderer Weise mit ihnen in Verbindung gebracht wird, schlägt sich nieder im Betätigungsraum des Künstlers Markus Franke. In verschiedensten Ausstellungen, derzeit auch in der Geschäftsstelle des Diakonischen Werkes in Karlsruhe, vor allem aber in ihrem Atelier findet dieser Raum seine sichtbare Vergegenständlichung.

„Du stellst meine Füße auf weiten Raum!“ Es ist ein Zeichen ihrer eigenständigen Persönlichkeit, dass sie die letzten Jahre dazu genutzt haben, die Weite dieses Raumes auszunützen und auszukosten. Und dass sie nicht der Gefahr erlegen sind, sich durch die Zumutung mancher Engführungen beschränken zu lassen. Kein Zweifel: Gott gedachte es gut zu tun mit ihnen in all den Jahren – und ich bin sicher: Manches wird in ihrem Bemühen, es ebenfalls gut zu tun, gewissermaßen im Rückfluss vielen anderen Menschen zugute kommen.

Neben den Raum stellt das von ihnen ausgewählte Psalmmotto für diesen Tag die Zeit. „Meine Zeit steht in deinen Händen!“ Dabei ist die Zeit zuallererst immer unsere je eigene Zeit. Und sie ist dabei doch zugleich Teil eines vereinbarten Maßes, das den Kontakt mit unserer Umwelt, mit den Menschen, die mit uns leben, überhaupt erst ermöglicht. Darum ist meine Zeit immer auch mit anderen geteilte und mit ihnen gemeinsam gestaltete Zeit.

Im Birklehof haben sie die Erfahrung der mit anderen geteilten und vereinbarten Zeit sicher sehr intensiv machen können. Und künftig auch in der Andreasgemeinde. Ihre je eigene Zeit markiert zugleich auch ein Fenster, durch das hindurch sie sich für andere Menschen als verlässlich erweisen.

Im Unterschied zu früheren Generationen hat dabei für uns alle der Takt der Zeitgebung heftig zugenommen. Wir stehen unter dem Druck, in immer weniger Zeit immer mehr an Leistung zu erbringen. Dies ist vermutlich der gefährlichste Sprengsatz, den sich unsere Gesellschaft derzeit mit dem Risiko des Verlustes der Humanität leistet. Die Verknappung des Gutes Zeit und die Verdichtung der Zeiträume unseres Lebens, unter wir alle zuleiden haben, vermögen am Ende keinen Gewinn hervorzubringen. Und wenn nur scheinbar und kurzfristig und nur nach den Gesetzmäßigkeiten einer durch und durch ökonomisierten Welt.

Es ist ein weitverbreitetes, womöglich vor allem protestantisches Missverständnis, dass der Müßiggang aller Laster Anfang sei. Das Gegenteil ist richtig. Wo wir die Lust und die Fähigkeit zur Muße dran gegeben haben, ist der Keim des Untergangs ausgesät. Gut, dass sie sich mit ihrem künstlerischen Schwerpunkt gerade hier der Mußenverweigerung sichtbar entgegenstellen.

Schließlich ist das, was Menschen heute am meisten brauchen, Mitmenschen, die Zeit haben. Wir gewinnen nichts, wenn wir den Zeittakt erhöhen. Aber wir gewinnen unendlich viel, wenn wir uns – und anderen – Zeit lassen.

Lothar Zenetti hat den Bericht von der wundersamen Brotvermehrung umgeschrieben und hat das, was wir postmodernen Menschen am nötigsten brauchen – gewissermaßen unsere Art des Brotes – ins Zentrum gerückt.

„Und er sah eine große Menge Volkes, die Menschen taten ihm leid, und er redete zu ihnen von der unwiderstehlichen Liebe Gottes. Als es dann Abend wurde, sagte seine Jünger: Herr, schicke diese Leute fort, es ist schon spät, und sie haben keine Zeit.

Gebt ihnen doch davon, so sagte er, gebt ihnen doch von eurer Zeit! Wir haben doch selber keine, fanden sie. Und was wir haben, dieses wenige, wie soll das reichen für so viele?

Doch da war einer unter ihnen, der hatte wohl noch fünf Termine frei, mehr nicht, zur Not, dazu zwei Viertelstunden. Und Jesus nahm, mit einem Lächeln, die fünf Termine, die sie hatten, die beiden Viertelstunden in die Hand. Er blickte zum Himmel, sprach das Dankgebet und Lob, dann ließ er austeilen die kostbare Zeit durch seine Jünger an die vielen Menschen.

Und siehe da: Es reichte nun das wenige für sie alle. Am Ende füllten sie sogar zwölf Tage voll mit dem, was übrig war an Zeit, das war nicht wenig. Es wird berichtet, dass sie staunten. Denn möglich ist, das sahen sie, Unmögliches bei ihm.

Es ist gut, wenn unsere Zeit Gott in die Hände fällt. Und wir von dem, was unsere Räume eng und unsere Zeit knapp macht, austeilen können aus Gottes Fülle. Dazu, lieber Herr Franke, werden sie heute bevollmächtigt und ordiniert. Sie teilen aus aus der Fülle, aus der sie selber leben. Indem sie mithelfen, anderen die Räume der Hoffnung weit zu halten. Und indem sie Mut dazu machen, bedrängende und belastete Zeit als Gottes Zeit zu einer lebbaren und befreienden Zeit zu verwandeln.

Vor allem anderen aber, in dem sie die Menschen das Staunen lehren, weil Unmögliches möglich wird bei Gott. Wir brauchen solche Lebensbotinnen und Lebensboten. Dass sie sich diese Aufgabe zur Lebensaufgabe machen, ist selber ein Zeichen der Hoffnung. Ist Anlass, Gott um seinen Segen zu bitten. Und ist allemal Grund zum Feiern. Amen.
Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.