PREDIGT ÜBER MATTHÄUS 6,5-15
ZUM ABSCHLUSS DES PRÄDIKANTEN-GRUNDKURSES 2006/2007
AM 13. MAI 2007 IN DER KAPELLE DES FBZ

13.05.2007
PREDIGT ÜBER MATTHÄUS 6,5-15
ZUM ABSCHLUSS DES PRÄDIKANTEN-GRUNDKURSES 2006/2007
AM 13. MAI 2007 IN DER KAPELLE DES FBZ

Liebe Schwestern und Brüder!

Leben heißt sich entscheiden. Leben heißt sich entscheiden in ganz unterschiedlicher Dimension. Da gibt es die Fülle der vielen kleinen Entscheidungen des Lebens. Viele davon müssen wir tagtäglich aufs Neue treffen. Was ziehe ich an? Was kaufe ich ein? Was nehme ich mir für heute vor? Wann finde ich Zeit für ein dringend nötiges Gespräch?

Daneben gibt es auch die langfristiger wirksamen, aber immer noch kleinen Entscheidungen: Wo will ich mich in meiner freien Zeit ehrenamtlich engagieren? Wohin fahre ich in den Urlaub? Wofür gebe ich eine Spende? Mit wem möchte ich mich wieder einmal treffen? Was will und muss ich tun? Was lasse ich lieber? Das Leben setzt diese Reihe schon aus sich selber jeden Tag fort.

Diesen kleinen Entscheidungen gegenüber stehen die großen Entscheidungen des Lebens. Die zentralen Weichenstellungen. Wie will ich leben? Welchen Beruf möchte ich ergreifen? Welche Lebensform strebe ich an? Dazu dann auch noch – und ganz entscheidend die Frage: Wo suche und wo finde ich Orientierung? Was gibt meinem Leben Sinn? Wie halte ich’s mit der Religion?

Jede noch so kleine Entscheidung speist sich im Grunde aus dieser einen großen. Man könnte auch sagen: Die großen Entscheidungen unseres Lebens gibt es fast immer nur aufgefächert in die vielen kleinen, alltäglichen, ja manchmal sogar banalen Entscheidungen.

Jede große Entscheidung speist sich am Ende aus vielen kleinen Einzelschritten und Überlegungen, Festlegungen und Experimenten. Was uns groß scheint, ist am Ende meist ein Mosaik. Zusammengesetzt aus vielen kleinen bunten Einzelteilen.

Wie aber kann man dabei zu einem klaren Muster kommen? Zu einem Bild vor dem Bild. Zu einer Vereinbarung über die Farben und die große Richtung des Ganzen?

Das Christentum bietet eine ganze Reihe, ja eigentlich könnte man sagen einen Schatz solcher Eckpunkte. Einige ganz Wesentliche sind in den verschiedenen Ausbildungseinheiten dieses Grundkurses angesprochen worden. Die Gottesdienste, die dabei während aller Kurswochenenden in unterschiedlicher Weise immer im Mittelpunkt standen, gehören ganz entscheidend dazu. Sie bestimmen in erheblichem Maß über die Farbgebung unseres Lebensmosaiks.

Aber natürlich wäre da auch anderes zu nennen. Die Fülle der biblischen Texte. Die altkirchlichen Bekenntnisse. Das Apostolicum und das Nicaenum. Die Barmer Theologische Erklärung aus dem Jahr 1934. Ganz bestimmt aber auch die klassischen, geprägten Texte der jüdisch-christlichen Tradition: die Psalmen. Die Zehn Gebote. Die Bergpredigt. Und daraus neben den Seligpreisungen insbesondere das Vater unser.

Bekannt wie kaum ein anderes ist dieses Gebet. Millionenfach gesprochen in den sonntäglichen Gottesdiensten. Geistliche Notration für unzählige Generationen. Als Stoßgebet in den Himmel geschickt. Nachgeplappert. Inflationär dahin gesagt. Urkunde oft auch einer Gewöhnungskirche. Ein Lebenstext – oft seines Sinnes beraubt und zum Nichtssagenden degradiert. Und dennoch voller Wegweisung, die Sinn gibt. Voller Zeichen, die gelingendes Leben möglich machen. Orientierungsshilfe bei den großen und kleinen Entscheidungen des Lebens.

Sieben Bitten hat der Vater-unser-Text. Wir haben ihn als Evangeliumslesung eben gehört. Und ich will mit ihnen jetzt den sieben Bitten entlang gehen. Ihre Botschaft meditierend entfalten.

- Kurzes musikalisches Zwischenspiel (1) -

Vater unser im Himmel – geheiligt werde dein Name!
Schon die Anrede ist im Grunde anstößig. Vater unser! Die Sprache eines männlich geprägten Gottesbildes, an das heute durchaus berechtigte Anfragen gerichtet werden. Wir müssen lernen, dies anders zu sehen. Die Anrede eine kritische Funktion entfalten zu lassen. Etwa dann, wenn wir nicht einfach unsere Väterbilder oder auch unsere Herrschaftsbilder auf Gott übertragen.

Denkbar ist doch auch der umgekehrte Weg. Von dem, was wir mit Gott verbinden - Liebe, Offenheit, schöpferische Kraft, Vergebung – von dem könnte so einiges zurückwirken auf uns Menschen. Auch auf uns Männer. Gott ist das Modell. Der Mensch – geschaffen als Mann und Frau – sein Ebenbild. Ein hoher Anspruch ist das, den wir nur allmählich und in Fragmenten einholen.

Gottes Namen zu heiligen heißt, Gottes Andersartigkeit respektieren. Gottes Namen nicht gemein machen. Nicht in unsere Kumpaneien einbinden. Gott ist und bleibt uns gegenüber. Bleibt der ganz andere. Unverfügbar und voller Überraschungen. Gott kommt von außen auf uns zu. Und ist am Ende doch tief in uns drin zu finden.

- Kurzes musikalisches Zwischenspiel (2) -

Dein Reich komme!
Viele Reiche sind gekommen im Laufe der Weltgeschichte. Ebenso viele sind untergegangen. Auch das so genannte Tausendjährige hat nur zwölf Jahre gedauert. Böse Jahre waren das. Jahre, deren Folgen wir noch lange nicht verdaut haben. Reich – das klingt nach Macht; auch nach Gewalt, die diese Macht aufrecht hält.

Gottes Reich ist nicht von dieser Welt. Gottes Reich kennt weder Rassismus noch Terrorismus. In Gottes Reich ist der Mensch nicht mehr des Menschen Wolf. Wo Gottes Reich sich ausbreitet, da genügt es, einfach Mensch zu sein. Du zu sagen. Und ich. Aber nicht, um die eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen. In Gottes Reich geht das Sein vor dem Haben. Da gibt es den Streit, der in den Frieden mündet, nicht in den Krieg.

Manchmal habe ich den Eindruck, es machte uns fast Angst, wenn es wirklich käme. Womöglich über Nacht. Und ohne Vorwarnung. Keine und keinen von uns ließe es unverändert zurück. Doch wir könnten endlich sein, wozu wir gemeint und gemacht sind.

- Kurzes musikalisches Zwischenspiel (3) -

Dein Wille geschehe!
Eigentlich ist dieser Satz eine Zumutung. Mühsam lernen wir – ein Leben lang – uns zu entscheiden. Lernen, endlich zu uns selber zu kommen. Unsere Bedürfnisse zu erkennen. Eine Ahnung davon zu gewinnen, was wir im Grunde unseres Herzens wollen. Es ist nicht leicht, „ich will!“ zu sagen, wenn wir wollen, was uns zusteht. Und nicht, wozu andere uns verführen.
Kleine Kinder sagen gerne: „Ich will..“ Aber sie sagen das, um ihre eigene Persönlichkeit, ihre Identität aufzubauen. Sie lernen zu unterscheiden zwischen dem Wünschenswerten und dem Möglichen. „Dein Wille geschehe!“ Das kann ich nur sagen, wenn ich weiß, dass dieser Wunsch an das Du Gottes letztlich mir zugute kommt. Dass gleichsam von höherer Warte, aus der Perspektive Gottes her, zu sehen ist, was ich selber gar nicht sehen kann.

Gott will nicht, dass wir unseren Willen aufgeben. Dass wir uns gängeln lassen. Wir dürfen, ja wir müssen erwachsen werden. Und wir sind es, wenn unser Wille sich aufgehoben weiß in jener Kraft, die die Liebe ist und die wir Gott nennen. Gottes Wille ist vor allem anderen einfach dies: Liebe. Liebe, die ich weitergebe. Liebe, die sich vermehrt, wenn wir sie teilen.

- Kurzes musikalisches Zwischenspiel (4) -

Unser täglich Brot gib uns heute!
Das brauchen wir kaum zu beten in unseren Breiten. Wo es bei uns doch mehr Brotsorten gibt als irgendwo auf der Welt. Weniger Brot wäre oft mehr. Und allemal gesünder.

Aber wir sind nicht die Mehrheit. Alle zwei Sekunden stirbt ein Mensch an Hunger. Weil ihm Reis fehlt. Oder Getreide. Weil die hygienischen Bedingungen unzureichend sind. Unser täglich Brot gib ihnen, Herr! Und gib uns, was wir zum Leben wirklich brauchen. Zeit. Geduld. Einen Menschen. Eine Umarmung. Tröstliche Worte. Auch Erfolg. Warum nicht. Unser täglich Brot, das ist das, ohne das meinem Leben Entscheidendes fehlt. Dieses Brot muss nicht nur gebacken werden. Wir können es erdenken. Erarbeiten. Gewinnen durch Verzicht. Erlieben. Vermehren durch Teilen.

„Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“, sagt das Sprichwort. Warum nicht einmal Gottes Lieder singen vom Sieg der Freundlichkeit über Gewalt. Vom Sieg des Lachens über vergossene Tränen. Vom Sieg des Lebens über den Tod. Warum nicht Gottes Brot kosten. Uns auf den einlassen, der von sich gesagt hat: „Ich bin das Brot, das euch leben lässt.“ Und der nichts anderes war als Gottes Ebenbild in unserer Welt. Der war und ist, was auch wir sein können, wenn wir von diesem Brot der Barmherzigkeit und Güte essen?!

- Kurzes musikalisches Zwischenspiel (5) -

Und vergib uns unsere Schuld!
Vergib‘ doch zumindest mir. Ich habe es schließlich nicht so gemeint. Der andere / die andere kann ruhig noch etwas schmoren. - So einfach ist das nicht mir der Vergebung. Ohne Vergebung kann keiner und keine leben. Das wissen wir alle. Aber: Wer hat den Mut, als erster die Brücke zu betreten, von der wir nicht wissen, ob sie trägt und wie tief wir fallen.

Schuld klingt altmodisch. Klingt nach schuldig. Und nach verurteilt. „Ich bin mir keiner Schuld bewusst!“, höre ich manchmal. Das mag sein. Doch Schuld ist keine moralische Kategorie. Schuldig sind wir, auch ohne uns zu verfehlen. Schuldig sein – uns etwas schuldig bleiben, meint mehr als „Nobody ist perfect!“

Wir bleiben hinter unseren Möglichkeiten zurück. Ziehen das Schweigen vor. Oder das Reden. Je nachdem. Was Schuld wirklich meint, können wir erst wissen, wenn einer uns freispricht. Wenn die Last weggenommen wird. Wenn wir recht sind, ohne vollkommen sein zu müssen. Wenn wir Gott recht sind, ohne den Aufbau unserer eigenen Leistungsschau. Gut, dass wir darauf nicht warten müssen.

Gott schenkt uns auch heute Mut zum Handeln. Gott gibt Freiraum für Fehler. Wenn wir darauf verzichten, uns auf den Weg zu machen, verzichten wir darauf, loszuwerden, was uns daran hindert zu leben.

Doch die Bitte geht noch weiter: „...Wie auch wir vergeben unsern Schuldigern!“ Es wäre doch allemal den Versuch wert. Es lebt sich wirklich einfacher, wenn wir nicht mehr alle Rechnungen offen lassen. „You are welcome“, sagt man im Englischen als Antwort, wenn zuvor einer Entschuldigung gesagt hat. „Du bist willkommen!“ Ich. Und die anderen eben auch.

- Kurzes musikalisches Zwischenspiel (6) -

Und führe uns nicht in Versuchung!
Jetzt endlich wird das Vater unser zum Stoßgebet des modernen Menschen. Der Versuch der Verführung geschieht allgegenwärtig. Keiner, der sich nicht erwehren muss. Unsere Gesellschaft – unser Wirtschaftssystem - speist sich aus der gelungenen Verführung. Werbung, die uns anmacht und Bedürfnisse suggeriert. Bewegte Bilder, die zu Bildern in unseren Köpfen werden. Das Ideal der Jugend, der Schönheit. Der gelungenen Karriere.

Es gibt keine versuchungsfreien Orte mehr. „Sollte Gott gesagt haben, von den Früchten dieses Baumes dürft ihr nicht essen?!“ Das ist die auf Dauer gestellte Frage der Schlange. Es kann doch nichts schaden nachzugeben. Wir haben ja sowieso keine andere Chance. Wer weiß, was er braucht, nimmt nicht mehr als das, was er oder sie zum Leben nötig hat. Führe mich nicht in Versuchung! Diese Bitte will uns anleiten zum heilsamen Verzicht.

Versuchung meint, das Glück jenseits der Grenzen dessen zu suchen, was uns gut tut. „Ihr werdet sein wie Gott“, versprach die Schlange einst der Eva. Es gibt Grenzen, die Leben bewahren. Die immun machen, gegen alle Versuchungen, das Leben auf das Vordergründige festzulegen. Gott ist die Fülle, die uns davor bewahrt, in der Beliebigkeit zu versinken.

- Kurzes musikalisches Zwischenspiel (7) -

Sondern erlöse und von dem Bösen!
Keinen Menschen gibt es, dem diese Worte nicht schon einmal über die Lippen gekommen sind. Die Bosheit kämpft um ihre Präsenz. Ihr Hauptgewand ist das der Ichbezogenheit. Des unglückseligen Vergleichs, der immer zu den eigenen Ungunsten enden muss. All diese in unglückseliger Manier vergleichenden Worte: „Mehr“, „Stärker“, „Reicher“, auch „Einfluss-Reicher“ – all diese Worte begründen Konkurrenzverhältnisse. Sie lassen einem die Grenze überschreiten. Die Grenze, die Böses gebiert.

Wir sind auf Orte gelingender Gegenbewegungen angewiesen. Die Kirche will und soll ein solcher Ort sein. Mit wirksamer Gegenrede gegen Unworte. Mit Zuspruch gegen Schweigen. Mit der Verwandlung zerstörerischen Hasses in schöpferische Liebe. Wieder ist es die Liebe – vielfach gebrochen und im Fragment, doch nie ohne Wirkung. Es ist die Liebe, die dem Bösen Grenzen setzt. Gott, der Liebe ist.

Und Gottes Liebe, stärker als das Böse, und Orientierung gebend in den Entscheidungen unsere Lebens – sie bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.