GOTTES LEBENSBROT – MEHR BRAUCHT’S NICHT

PREDIGT ÜBER 2. MOSE 16,2+3.11-18
GEHALTEN AM SONNTAG, DEN 6. JULI 2008 (7.S.N.TRINITATIS)
ANLÄSSLICH DES 110. JAHRESFESTES DES DIAKONISSENHAUSES IN FREIBURG

06.07.2008
Liebe Jahresfestgemeinde,
liebe Schwestern!

Früher war alles besser! Vielen ist dieser Satz schon über die Lippen gekommen. Oder zumindest im Inneren unausgesprochen und lautlos aus der geplagten Seele aufgestiegen. Anlässe für diesen Stoßseufzer der Enttäuschung gibt es genug. Früher war alles besser.

Ältere Menschen stimmen mit ein, wenn sie darauf verweisen, dass man die Alten früher noch mit Würde und Ehrfurcht behandelte hat, weil noch wusste, was sich schickt und was nicht. Weil noch jeder jeden kannte und freundlich grüßte. Früher war alles besser. Viele Menschen erinnern sich so mit Wehmut an die Preise der DM-Zeit, die man noch bezahlen konnte. Früher war alles besser. Der Meister klagt so über die Lehrlinge, die keine Lust mehr zur Arbeit haben. Die Lehrerin klagt so über ihre Schüler und der Professor über seine Studenten, die sich nicht mehr mit aller Kraft dem Lernen widmen. Früher war alles besser – auch in der Kirche kann man diesen Satz immer wieder hören, seien doch früher Kirchenbänke ebenso voll gewesen wie die Kirchenkassen. Womöglich klagen auch manche Schwestern aus ihrer Mitte so über vergangene Zeiten, als man noch mit viel größerer Zahl und mit genügend Nachkommenden sorglos in die Zukunft schauen konnte.

Wir Menschen neigen dazu, die Gegenwart zu verteufeln u die Vergangenheit zu verklären. Wir rühmen die Pax Augusta, die kriegslosen Zeiten unter Kaiser Augustus und vergessen, mit welchen Machtmitteln dieser Frieden erkauft wurde. Wir sprechen von den Golden Twenties, den goldenen Zwnziger-Jahren des letzten Jahrhunderts, ohne daran zu denken, dass sie nach dem Zusammenbruch der Wirtschaft und dem Ende der ersten Versuche in Demokratie direkt in der Katastrophe des Dritten Reiches geführt haben. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten erinnern wir uns an die Zeit des Wirtschaftswunders, als es so sehr bergauf ging, dass Arbeitskräfte aus dem Ausland geholt werden mussten. Dabei lassen wir meist außer Acht, welche vorausgegangenen Abstürze dieses Wirtschaftswunder erst nötig gemacht haben.

Früher war alles besser – oder es war bestimmt nicht so schlecht wie wir damals gedacht haben – auch als Feststellung, die die Gefährlichkeit und die Tristheit der Vergangenheit in Gestalt des Lebens unter einer Diktatur ausblendet, kann man diesen Satz heute gelegentlich hören, wenn Menschen über ihr Leben in der DDR reden, enttäuscht darüber, dass sie nach der Wende in der Bundesrepublik, aber nicht im Paradies angelangt sind. Alle hatten Arbeit und genügend Kindergarten- und Krippenplätze gab es auch. Doch beides war doch sicherlich nicht der Grund dafür, dass die DDR in den Friedensgebeten und Demonstationen des Jahres 1989 ihre Lebensgeister ausgehaucht hat.

Früher war alles besser. Dieser Satz ist eine besondere Form der Unzufriedenheit und des Neids. Des Neids nicht auf die Menschen um uns herum, denen es anscheinend besser geht. Nein, in diesem Fall des Neides auf diejenigen, die das Glück hatten, dass ihnen die in Schwarztönen gemalte Gegenwart erspart geblieben ist. Früher war alles besser. Man könnte meinen, die besten Zeiten lägen hinter uns. Und die Gegenwart sei die erste Station auf dem Weg in den Untergang. Dabei – und da bin ich ganz sicher – stand schon jede Generation vor uns in der Gefahr, das Lied von der ach so viel besseren Vergangenheit zu singen.

Eben dies taten zumindest auch die Israeliten. Da hat Gott ihr Seufzen und Klagen über den harten Frondienst in Ägypten gehört. Und er hat sie mit Macht durch das Rote Meer hindurch befreit und ihnen eine Zukunft in Freiheit verheißen. Doch nicht Dankbarkeit ist angesagt. Sondern ein ums andere Mal und bei jeder neuen Herausforderung lauthalses und vorwurfsvolles Klagen.

„Ach säßen wir doch nur noch in Ägypten. Dort waren die Fleischtöpfe voll. Und wenn wir es uns recht überlegen: Wir hatten zumindest Arbeit und irrten nicht ziellos in einer unwirtlichen Wüstenlandschaft umher.“ So kurz ist das Gedächtnis der Menschen. So kurz ist nicht selten unser aller Gedächtnis. Und schon erklingt dann jener Ruf, den die Israeliten im Predigttext Mose entgegenschleudern. Die Wüste hatte die Erwartungen an die Taube auf dem Dach bislang nicht erfüllt. Da ist einem der Spatz in der geschundenen Sklavenhand eben doch noch lieber.

Wo wir gerne genervt abschalten, da lässt sich Gott ein ums andere Mal dazu verlocken, sich als der den Menschen Zugewandte und alle Not Wendende zu erweisen. Und wie schon früher in Ägypten macht Gott sich auch im Predigttext wieder mit jenen Worten vernehmbar: „Ich habe das Murren und Seufzen meines Volkes gehört.“ Schon einmal hatte Gott diesen Satz zu Mose gesagt – damals aus dem brennenden Dornbusch heraus, als Gott Mose den Auftrag gibt, sein Volk aus der Sklaverei in die Freiheit zu führen. Und mitten in allem Murren und aller beschönigenden Erinnerung an die Fleischtöpfe Ägyptens hört Mose diesen Satz nun ein weiteres Mal. „Ich habe das Murren und Seufzen meines Volkes gehört!“

Wo wir sicher sein können, dass Gott hört, hat die Zukunft schon längst begonnen. Dieses Mal bricht die Zukunft in Gestalt der Zusage des zum Überlegen Notwendigen über die Menschen herein. Wachteln lässt Gott den Murrenden zukommen und eben jenes besondere Brot, um das es im Predigttext vor allem geht: Manna. Eigentlich ist Manna kein Brot, sondern ein von einer Schildlausart in Gestalt kleiner Kügelchen ausgeschiedener und zuvor aus der Mannatamariske ausgesaugter nahrhafter Pflanzensaft.

Den Israeliten in der Wüste müssen diese Kügelchen, die sich am Morgen wie Tau auf den Boden gelegt haben, wie Lebensbrot vorgekommen sein. Manna wird zum Sinnbild der Nahrung, die uns auch in widrigen Umständen leben lässt. Doch lässt sich dieses Manna nicht horten, wie wir das gerne mit den Dingen tun, die wir für besonders wertvoll halten. Denn wir haben im Predigttext gehört: „Aber als man's nachmaß, hatte der nicht darüber, der viel gesammelt hatte, und der nicht darunter, der wenig gesammelt hatte.“ Die Lebensnahrung Gottes entzieht sich den Gesetzen von Anhäufen und Verknappen – jenen Gesetzmäßigkeiten, mit denen wir bis heute den Preis unserer Güter bestimmen.

Gott gibt eben nicht gemäß unserer Gier. Gott gibt gemäß unserem Bedarf. Und jener bekannte Satz, jenes Bekenntnis von Dietrich Bonhoeffer kommt mir in den Sinn:

„Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.

Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandkraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen.

In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.„

Manna – Lebensbrot aus der Hand Gottes. Lebensbrot, das unseren Bedarf stillt. Lebensbrot zugleich aber auch, das sich den Gesetzmäßigkeiten unseres kapitalistischen Sammelns und Gewinnstrebens entzieht. In durchaus vergleichbarer Weise hat Jesus gegenüber den Menschen von der Großzügigkeit Gottes gesprochen. Etwa in dem bekannten Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg. Alle erhalten den gleichen Lohn. Ganz egal, ob sie nur eine Stunde oder ob sie den ganzen Tag gearbeitet haben.

Früher war alles besser – so murren die Arbeiter, die mit mehr gerechnet haben. Früher, so dachten sie, hätte man den Stundenlohn mit der Zahl der gearbeiteten Stunden multiplizieren können. Und zwölf Stunden Arbeit hätte dem zwölffachen Lohn entsprochen. Es ist gerecht, dass wir das in unserem Arbeitsrecht bis heute so geregelt haben. Und es ist nach unseren Maßstäben auch gerecht, wenn diejenigen, die mehr auflesen als andere, sich einen Vorrat anlegen. Leistung soll sich doch lohnen, sagen wir. Aber an anderer Stelle des Kapitels, aus dem unser Predigttext stammt, wird berichtet: Wer über den Eigenbedarf hinaus gesammelt hat, dessen Manna-Vorräte sind verrottet.

Gott gibt, was wir zum Leben brauchen. Nicht was wir sammeln, um mehr zu haben als andere. Einen Brotkönig hätten die Menschen zur Zeit Jesu gerne gehabt. Einer, der immer für genügend Nahrung sorgt. Einen furchtlosen Streitkönig hätten andere gerne gehabt. Einer, der die Römer aus dem Land wirft und die Grenzen sichert. Einen prächtigen König voll Macht, hätten die Menschen gerne gehabt. Einen, mit dem sich Staat machen ließe. Stattdessen kommt ein Kind zur Welt. Ohne Macht und Pracht. In einem Hinterhof des römischen Reiches. Ein Kind, das sich wie kein anderes für die Menschen interessiert. Und das später den Machthabern gehörig in die Quere kommt. Und das man dann auch mit den üblichen Mitteln der Gewalt aus der Welt zu schaffen versucht.

Doch Gott lässt durch diesen Menschen hindurch erkennen, wie er selber erkannt sein will. Gott ist sich genug in jenem Jesus aus Nazareth, der seine Existenz in jenem Mannawunder gedeutet sieht. „Ich selber bin das Manna, das euch leben lässt.“ So wird uns im Johannes-Evangelium von Jesus berichtet. Nichts anderes bekommen die vor Augen gestellt, die Gott selber sehen wollen, als einen Menschen. Einen, in dem Gott wird, was auch wir selber sind: Mensch! Einen Menschen aber zugleich, in dem sie die Fülle dessen erkennen können, was wir in unserem Glauben mit Gott verbinden.

Manna bekommen die Israeliten in der Wüste, als sie sich dem Tod gegenübersehen. Das Produkt einer unbedeutenden Laus. Und doch die Garantie des Überlebens in Zeiten, als es ihnen an dem zum Überleben Allernotwendigsten mangelt. Wir haben immer zwei Möglichkeiten, wenn wir an der Gegenwart zu Verzweifeln drohen. Wir können das Heil in der Vergangenheit suchen. Wir können uns zurücksehen an die Fleischtöpfe Ägyptens. Und dabei vergessen, dass dieses Fleisch Tag für Tag mit Tränen benetzt war.

Wir können das Bessere aber auch aus der Zukunft erwarten. Wir können uns verlassen auf den, der gibt, was wir zum Leben brauchen. Der sich selber gibt als Brot des Lebens, an dem wir genug haben.

Diese zweite Möglichkeit ist die mutigere und anspruchsvollere. Leben heißt immer Aufbrechen. Gefordert ist von uns darum der Mut zum Aufbruch in unbekanntes Land. Gefordert ist von uns der gänzliche Wechsel der Perspektive. Nicht von der Ansicht der Situation sollen wir leben, sondern von der Aussicht des uns von Gott Zugesagten. Gefordert ist von uns die Aufgabe der vermeintlichen Sicherheit des Vertrauten. Der Verzicht auf die Fleischtöpfe Ägyptens, deren Inhalt uns am Ende doch nur bitter aufstößt. Gefordert ist von uns der Mut zum Aufbruch ins unbekannte Land.

Vorhin haben wir gesungen:

Vertraut den neuen Wegen,
auf die uns Gott gesandt.
Er selbst kommt uns entgegen,
die Zukunft ist sein Land.
Wer aufbricht, der kann hoffen
In Zeit und Ewigkeit.
Die Tore stehen offen,
das Land ist hell und weit.

Ein Gegenlied gegen alles Festhalten am Vertrauten ist das. Eine Lied, das aufräumt mit der falschen Parole: Früher war alles besser. Dass früher alles besser war – aus Sicht des Gottesglaubens ist das ein Irrtum. Denn die besten Zeiten, sie liegen nicht hinter uns. Sie liegen vor uns. Weil Gott das Seufzen und Murren seines Volkes auch heute hört. Weil Gott will, dass wir genug haben an dem, was wir zum Leben wirklich brauchen. Weil Gott aus der Zukunft auf uns zukommt. Gottes Zukunft mit uns endet nicht mit dem 110.Jahresfest dieses Diakonissenhausen. Gottes Zukunft mit ihnen allen hat heute wieder neu begonnen. Und wir dürfen uns auch morgen wieder an seinem Lebensbrot nähren. Mehr braucht’s nicht. Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.