PREDIGT ÜBER HEBRÄER 9,15.26B-28
GEHALTEN AM KARFREITAG, DEN 6. APRIL 2012 IN NEUREUT-NORD
06.04.2012
Die Geschehnisse des Karfreitags – sie sind doch eigentlich unerträglich, liebe Gemeinde. Ein grässlicher Tod. Einer der zum Opfer wird. Sicher nicht ohne eigenes Dazutun. Aber ohne eigene Schuld. Macht, die ihr hässliches Gesicht zeigt. Römischer Präfekt und Hoherpriester – beide ohne Skrupel, ihre Interessen durchzusetzen.
Und doch begehen auch wir in diesem Jahr wieder den Karfreitag. Haben das Kreuz und den Gekreuzigten vor Augen. Kein Kirchengebäude kommt ohne ein Kreuz aus, wenn es als Kirche erkennbar bleiben will.
Wieso halten wir das aus? Wieso treibt uns dieses Zeichen des Justizmordes nicht Wut und Abscheu uns Gesicht? Nein, schön ist dieser Tod nicht. Und wir hätten keinen Grund zu feiern, wenn an diesem Freitag vor 2000 Jahren das letzte Wort über diesen König der Juden gesprochen worden wäre. Wenn mit diesem Schild des Pilatus, diesen vier Buchstaben INRI, die die viele Kruzifixe zieren, - wenn so die Akte hätte geschossen werden müssen.
Nein, ertragen können wir das Geschehen dieses Freitags damals und diesen Karfreitag heute - ertragen können wir ihn nur, weil aus der Zukunft Licht auf ihn fällt. Weil wir ihn im Licht der Ostern sehen. Und verstehen – wenn überhaupt. Weil wir gewissermaßen hinter der Bühne sitzen. Weil wir wissen – das war nicht das Ende. Das war überhaupt erst der Anfang einer neuen Geschichte. Einer Geschichte vom Sieg des Lebens über den Tod.
Erträglich werden die Ereignisse des Karfreitags, weil wir sie deuten. Weil wir ihnen etwas abspüren, was über das Faktum des Todes hinausweist.
Es gibt verschiedene Wege, diesen Tod zu deuten. Es gibt verschiedenen Weisen, im Holz des Kreuzes schon den Lebensbaum zu erahnen. Es gibt verschiedene Zugänge, um bereits im Tod den Geschmack des Lebens herauszuschmecken.
Einer der Wege ist beinahe seit den Ereignissen selber, die Geschichte des Karfreitags zu erzählen. Besser noch, auf die Geschichte zu hören. Als Evangelium haben wir vorhin den Bericht des Johannes gehört. Dieser Bericht – und auch der des Mathäus – findet in diesen Tagen wieder Abertausende von Zuhörerinnen und Zuhörern in der Version von Johann-Sebastian Bach. In seiner Ausgestaltung der Johannes-Passion.
Gerade der Bericht des Evangelisten Johannes hat seine ganze besondere Prägung. Gerade bei Johannes liegt schon im Tod der Schlüssel, um aus diesem Tod die Zukunft zu gründen. Der Schlusschor der Johannes-Passion bringt dies überaus eindrücklich und zu Herzen gehend zur Sprache:
Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine,
die ich nun weiter nicht beweine,
ruht wohl und bringt auch mich zur Ruh.
Das Grab (…) macht mir den Himmel auf und schließt die Hölle zu.
Die deutende Erzählung, die Berichte der Evangelisten – das ist ein Weg, durch den Karfreitag hindurch und über den Karfreitag hinaus zu kommen.
EG 87,1: Du großer Schmerzensmann
Es gibt noch eine andere, eine zweite Form des Umgangs mit dem Karfreitag, einen anderen Weg, ihn in unser Leben zu ziehen. Ich meine die Form der theologischen Deutung. In den Briefen des Apostels Paulus finden wir viele Texte, die den Karfreitag in der Weise ausleuchten. Christus, der Gekreuzigte, macht für Paulus den Kern des Evangeliums aus. Zugleich aber auch Christus, der Auferstandene. „Wäre Christus nicht auferstanden“, schreibt Paulus etwa nach Korinth, „dann wäre Euer ganzer Glaube einfach Unsinn!“
Noch einmal anders argumentiert der heutige Predigttext. Er findet sich in einem Brief des Neuen Testaments, der nicht von Paulus stammt. Im Hebräerbrief. Dort heißt es im 9. Kapitel:
Christus ist der Mittler des neuen Bundes, damit durch seinen Tod, der geschehen ist zur Erlösung von den Übertretungen unter dem ersten Bund, die Berufenen das verheißene ewige Erbe empfangen. (…) Nun aber, am Ende der Welt, ist er ein für allemal erschienen, durch sein eigenes Opfer die Sünde aufzuheben. Und wie den Menschen bestimmt ist, einmal zu sterben, danach aber das Gericht: so ist auch Christus einmal geopfert worden, die Sünden vieler wegzunehmen; zum zweiten Mal wird er nicht der Sünde wegen erscheinen, sondern denen, die auf ihn warten, zum Heil.
EG 87,2: Ach das hat unsere Sünd
Die Frage dieser Liedstrophe „Was hast du sonst getan?“ – hier wird sie beantwortet. In der Version dieses Briefes lautet die Antwort: "Was getan ist, ist ein für allemal erledigt!" – Ein für alle Mal. Kein weiteres Leiden mehr auf dieser Erde. So hätten wir es vermutlich alle gern. So müsste es für immer sein. Was ein für allemal erledigt ist, davor haben wir endgültig Ruhe. Das nimmt uns nicht mehr in Beschlag. Ein für allemal - da gibt es nichts mehr nachzubessern. Und auszuhalten. Da hat das, was gilt, Bestand. Eben ein für alle mal.
Ein für allemal - so haben wir es eben gehört – ein für alle Mal hat Christus sich für uns geopfert. Ein für allemal hat Christus unsere Schuld auf sich genommen.
Klare und eindeutige Worte sind das. Worte, die ein für allemal klarlegen, worum es geht am Karfreitag. Das Vorbild für das Verständnis Christi im Hebräerbrief, das ist der jüdische Tempelkult. Nur einmal im Jahr durfte der Hohepriester das Allerheiligste im Tempel betreten. Und auch nur er allein. Der alljährliche Versöhnungsfest Yom Kippur hat den Sinn, Gott ein ganz besonderes, einmaliges Opfer zu bringen. Das Versöhnungsfest markiert einen Neuanfang. Was war, ist vergeben. Das Leben kann gewissermaßen ganz neu beginnen.
Dieses einzigartige Opfer ist nur ein Schatten des Opfers, das Christus gebracht hat, so lesen wir es im Hebräerbrief immer wieder. Nicht nur an dieser Stelle. Christi Tod sei das endgültige, unüberbietbare Opfer. Es bedarf keiner Wiederholung. Es gilt eben ein für allemal.
Viel Streit gibt es gegenwärtig um diese Deutung des Todes Christi als Opfer. Was theologisch richtig sein mag, ist eben noch lange nicht für alle Menschen plausibel. Und schon gar nicht allgemeinverständlich. Der Opfergedanke, so wie die Menschen ihn damals verstanden, ist für uns schon lnicht mehr so einfach nachvollziehbar. Der befreiende Sinn eines Opfers ist uns verloren gegangen.
Wenn einer sich aufopfert, so wie wir das verstehen - für seine Firma, für einen Verein, für seine Angehörigen, da ist doch er oder sie selber schuld, wenn ihm alles über den Kopf wächst. Wer seine Zeit opfert, will Anerkennung haben. Oder ist auf Erfolg aus.
Unsinnige Opfer fordern heutzutage weltweit die vielen großen und kleinen Kriege. Kriegsopfer. Unsinnige Opfer fordert auch der Straßenverkehr. Verkehrsopfer. Schmerzliche Opfer sind das. Zum Heil, wie es im Predigtext im Blick auf Christus heißt, geschehen diese Opfer wahrhaftig nicht.
Wir dienen häufig anderen Göttern. Dem Gott Erfolg etwa. Oder dem Gott Leistung. Dem Gott Konsum. Dem Gott Freizeit oder auch Urlaub. Manchmal auch dem Gott: "Das ist eben mein Recht!" Auch unsere Arbeit, unsere vielen Pläne und Vorhaben, unsere terminlichen Verpflichtungen können für uns zu Göttern werden. Sie können der Erkenntnis Gottes und seiner Menschenfreundlichkeit in Christus sehr wohl im Wege stehen. Und als Götzen und Götter Kraft entfalten, die unserer Gesellschaft anscheinend wichtig, ja heilig sind.
Auch Christus haben wir heute vielfach längst geopfert. Aber anders, als das der Hebräerbrief meint. Christus opfern wir, indem wir ihn dran geben. Wir opfern ihn, indem wir sagen: Auf das, was wir von diesem Christus hören und was wir von ihm lernen können, können wir doch ganz gut verzichten.
Das Opfer, von dem der Hebräerbrief spricht, hat eine andere Perspektive. Es eröffnet Zukunft. Es ist Sinn stiftend. Was geschehen ist an diesem ersten Karfreitag – was uns zugesagt wird für das Ende der Zeiten, die noch kommen, das umschreibt der Schreiber des Hebräerbriefes mit dem Ausdruck „Heil“. Natürlich ist auch mit diesem Wort schon viel Schindluder getrieben worden. Und vielleicht wäre es deshalb besser, einfach vom Glück zu sprechen. Am Ende kommt es Gott darauf an, dass wir glücklich werden. Diese Zusage lässt uns sogar den Karfreitag aushalten.
Eine dritte Form, mit dem Karfreitag fertig zu werden, ihn auszuhalten, das ist die, seine Botschaft singend zu bewältigen. Choräle gehören insbesondere zur Tradition unserer evangelischen Kirche seit den Tagen der Reformation dazu. Es gibt kaum einen Gottesdienst am Karfreitag, in dem nicht das Lied gesungen wird, das wir eingangs gesungen haben. Das Lied „O Haupt voll Blut und Wunden“.
Mit Hilfe eines anderen Passionsliedes möchte ich mit Ihnen einen dritten Blick auf das werfen, was sich am Karfreitag ereignet hat. Die ersten beiden Strophen dieses Liedes haben wir schon gesungen. Jetzt singen wir Strophe 3:
EG 87,3: Dein Kampf ist unser Sieg
Von Adam Thebesius haben wir nur dieses eine Lied im Gesangbuch. Allzuviel wissen wir auch nicht von ihm. Er war schlesischer Pfarrer. Gelebt hat er im 17. Jahrhundert. Sehr alt ist er nicht geworden. Mit 56 Jahren ist er schon gestorben. Früh gestorben sind auch vier seiner acht Kinder. Darin erinnert er durchaus an Paul Gerhardt.
Seinen Glauben hat Adam Thebesius darüber nicht verloren. Gerade der Karfreitag war ihm besonders wichtig. Dessen Bedeutung wollte er auch singend erfassen und beschreiben. Dabei bediente er sich einer einfachen und verständlichen Sprache.
Die dritte Strophe, die wir eben auch schon gesungen haben, sie ist die Schlüsselstrophe.
Dein Kampf ist unser Sieg.
Dein Tod ist unser Leben.
In deinen Banden ist die Freiheit uns gegeben.
Dein Kreuz ist unser Trost.
Die Wunden unser Heil.
Dein Blut das Lösegeld, der armen Sünder Teil.
Von einer kompletten Umdeutung, besser einer Umschichtung des Vertrauten dichtet Adam Thebesius hier. Alles Schwere und Belastende, alles Tödliche sieht er auf die Seite Christi gelegt: Kampf, Fesseln, Kreuz und Tod. Auf unserer Seite verortet er das, was uns leben lässt: Trost und Freiheit. Sieg und Leben.
Ein fröhlicher Tausch ist das. Ein Tausch zu unseren Gunsten. Dieser Tausch zu unseren Gunsten ist nichts Neues. Wir finden diesen Gedanken auch schon in den Liedern zu Weihnachten. Am schönsten und klarsten im Lied „Lobt Gott, ihr Christen, alle gleich“. „Er wechselt mit uns wunderlich“, heißt es da in einer Strophe. Und in einer anderen: „Er wird ein Knecht und ich ein Herr, das mag ein Wechsel sein.“
Gott wechselt die Seiten – zu unseren Gunsten. Zu unserem Glück. Einiges an Einsatz wird auch uns dabei abverlangt. Davon handelt die nächste, die 4. Strophe, die wir jetzt miteinander singen.
EG 87,4: O hilf, dass wir auch uns
Eine Mutmachstrophe ist diese vierte Strophe. Eine Strophe, der eine sehr realistische Einsicht zugrunde liegt. Lasten werden niemandem im Leben erspart. Leiden gehört meist irgendwie dazu. Ohne dass wir es erst eigens suchen müssten.
Wir müssen dieses Leiden nicht messen. Und schon gar nicht vergleichen. Weder untereinander. Noch gar mit dem Leiden Jesu. Vergleiche tun uns meist nicht gut. Sie stürzen uns eher ins Unglück.
Der Sinn des Karfreitags erschließt sich auch nicht im Vergleich der Schwere des Leidens, das Menschen anderen zumuten. Dieses Leiden hat sein Ziel darin, dass es anderen zugut geschieht. Dass da einer eintritt für andere. Dass da einer die Auseinandersetzung nicht scheut. Dass da einer die Wahrheit nicht dran gibt. Und dass in diesem einen sich Gott zu erkennen gibt.
Stellvertretend handelnd für andere. In einem Akt der Hingabe. Im Handeln aus Liebe. Im Eintreten für die, denen die Kraft dazu fehlt. Oder abhanden gekommen ist. Die Jahreslosung kommt mir in den Sinn. „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ Wo wir nur noch Scherben sehen, da sieht Gott das Ganze. Wo wir das Ende beklagen, da lässt uns Gott zu einem neuen Anfang finden. In diesem fröhliche Tausch, der uns auf die Seite des Gelingens rückt. Der uns Freiheit und Leben zusagt.
Daher macht mir die erste Strophe des Liedes durchaus Mühe. Zumindest an einer Stelle. „Vom Vater so geschlagen!“ Ich bin sicher: Es ist nicht Gott, der schlägt. Es ist Gott, der geschlagen und geschunden wird. Der sich schlagen und schinden lässt – uns zugut.
Gott ist kein Gott, der das Leid anderer braucht, um dem Recht zum Durchbruch zu verhelfen. Gott will diesem Leid, dieser Kette ununterbrochenen Unrechts ein Ende bereiten. Gott ist einer, der dazwischen geht. Der das Risiko nicht scheut. Der nicht einmal dem Tod aus dem Weg geht. Ihm aber das letzte Wort allemal nicht überlässt.
Nicht im Leiden handelt Gott. Gott handelt vielmehr am Ostermorgen. Indem er den ins Recht setzt, den andere zu Unrecht verlacht und verhöhnt haben. Den andere zu Tode brachten, weil sie sich auf der sicheren Seite wähnten.
Weil Gott handelt am Ostermorgen, deshalb können wir sicher sein: Gott hält sich auch am Karfreitag nicht schadlos. Bringt sich nicht in Sicherheit. Wo wir Gottes Abwesenheit am stärksten beklagen, da ist er zu finden. Gerade am Karfreitag gilt: Gott ist mittendrin. In der Welt. Mitten unter den Menschen.
Mensch geworden ist Gott an unserer Seite. Tritt an unsere Stelle. Die Geschehnisse des Karfreitag –sie mögen unerträglich sein. Aber die Botschaft des Karfreitag - sie lässt uns leben! Das dürfen wir auch heute schon feiern. Weil es der Auferstandene ist, der uns an seine Tisch lädt. Auch heute. Damit wir den Karfreitag aushalten können. Amen.
EG 87,5+6: Dein Angst kommt uns zugut/i>
Und doch begehen auch wir in diesem Jahr wieder den Karfreitag. Haben das Kreuz und den Gekreuzigten vor Augen. Kein Kirchengebäude kommt ohne ein Kreuz aus, wenn es als Kirche erkennbar bleiben will.
Wieso halten wir das aus? Wieso treibt uns dieses Zeichen des Justizmordes nicht Wut und Abscheu uns Gesicht? Nein, schön ist dieser Tod nicht. Und wir hätten keinen Grund zu feiern, wenn an diesem Freitag vor 2000 Jahren das letzte Wort über diesen König der Juden gesprochen worden wäre. Wenn mit diesem Schild des Pilatus, diesen vier Buchstaben INRI, die die viele Kruzifixe zieren, - wenn so die Akte hätte geschossen werden müssen.
Nein, ertragen können wir das Geschehen dieses Freitags damals und diesen Karfreitag heute - ertragen können wir ihn nur, weil aus der Zukunft Licht auf ihn fällt. Weil wir ihn im Licht der Ostern sehen. Und verstehen – wenn überhaupt. Weil wir gewissermaßen hinter der Bühne sitzen. Weil wir wissen – das war nicht das Ende. Das war überhaupt erst der Anfang einer neuen Geschichte. Einer Geschichte vom Sieg des Lebens über den Tod.
Erträglich werden die Ereignisse des Karfreitags, weil wir sie deuten. Weil wir ihnen etwas abspüren, was über das Faktum des Todes hinausweist.
Es gibt verschiedene Wege, diesen Tod zu deuten. Es gibt verschiedenen Weisen, im Holz des Kreuzes schon den Lebensbaum zu erahnen. Es gibt verschiedene Zugänge, um bereits im Tod den Geschmack des Lebens herauszuschmecken.
Einer der Wege ist beinahe seit den Ereignissen selber, die Geschichte des Karfreitags zu erzählen. Besser noch, auf die Geschichte zu hören. Als Evangelium haben wir vorhin den Bericht des Johannes gehört. Dieser Bericht – und auch der des Mathäus – findet in diesen Tagen wieder Abertausende von Zuhörerinnen und Zuhörern in der Version von Johann-Sebastian Bach. In seiner Ausgestaltung der Johannes-Passion.
Gerade der Bericht des Evangelisten Johannes hat seine ganze besondere Prägung. Gerade bei Johannes liegt schon im Tod der Schlüssel, um aus diesem Tod die Zukunft zu gründen. Der Schlusschor der Johannes-Passion bringt dies überaus eindrücklich und zu Herzen gehend zur Sprache:
Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine,
die ich nun weiter nicht beweine,
ruht wohl und bringt auch mich zur Ruh.
Das Grab (…) macht mir den Himmel auf und schließt die Hölle zu.
Die deutende Erzählung, die Berichte der Evangelisten – das ist ein Weg, durch den Karfreitag hindurch und über den Karfreitag hinaus zu kommen.
EG 87,1: Du großer Schmerzensmann
Es gibt noch eine andere, eine zweite Form des Umgangs mit dem Karfreitag, einen anderen Weg, ihn in unser Leben zu ziehen. Ich meine die Form der theologischen Deutung. In den Briefen des Apostels Paulus finden wir viele Texte, die den Karfreitag in der Weise ausleuchten. Christus, der Gekreuzigte, macht für Paulus den Kern des Evangeliums aus. Zugleich aber auch Christus, der Auferstandene. „Wäre Christus nicht auferstanden“, schreibt Paulus etwa nach Korinth, „dann wäre Euer ganzer Glaube einfach Unsinn!“
Noch einmal anders argumentiert der heutige Predigttext. Er findet sich in einem Brief des Neuen Testaments, der nicht von Paulus stammt. Im Hebräerbrief. Dort heißt es im 9. Kapitel:
Christus ist der Mittler des neuen Bundes, damit durch seinen Tod, der geschehen ist zur Erlösung von den Übertretungen unter dem ersten Bund, die Berufenen das verheißene ewige Erbe empfangen. (…) Nun aber, am Ende der Welt, ist er ein für allemal erschienen, durch sein eigenes Opfer die Sünde aufzuheben. Und wie den Menschen bestimmt ist, einmal zu sterben, danach aber das Gericht: so ist auch Christus einmal geopfert worden, die Sünden vieler wegzunehmen; zum zweiten Mal wird er nicht der Sünde wegen erscheinen, sondern denen, die auf ihn warten, zum Heil.
EG 87,2: Ach das hat unsere Sünd
Die Frage dieser Liedstrophe „Was hast du sonst getan?“ – hier wird sie beantwortet. In der Version dieses Briefes lautet die Antwort: "Was getan ist, ist ein für allemal erledigt!" – Ein für alle Mal. Kein weiteres Leiden mehr auf dieser Erde. So hätten wir es vermutlich alle gern. So müsste es für immer sein. Was ein für allemal erledigt ist, davor haben wir endgültig Ruhe. Das nimmt uns nicht mehr in Beschlag. Ein für allemal - da gibt es nichts mehr nachzubessern. Und auszuhalten. Da hat das, was gilt, Bestand. Eben ein für alle mal.
Ein für allemal - so haben wir es eben gehört – ein für alle Mal hat Christus sich für uns geopfert. Ein für allemal hat Christus unsere Schuld auf sich genommen.
Klare und eindeutige Worte sind das. Worte, die ein für allemal klarlegen, worum es geht am Karfreitag. Das Vorbild für das Verständnis Christi im Hebräerbrief, das ist der jüdische Tempelkult. Nur einmal im Jahr durfte der Hohepriester das Allerheiligste im Tempel betreten. Und auch nur er allein. Der alljährliche Versöhnungsfest Yom Kippur hat den Sinn, Gott ein ganz besonderes, einmaliges Opfer zu bringen. Das Versöhnungsfest markiert einen Neuanfang. Was war, ist vergeben. Das Leben kann gewissermaßen ganz neu beginnen.
Dieses einzigartige Opfer ist nur ein Schatten des Opfers, das Christus gebracht hat, so lesen wir es im Hebräerbrief immer wieder. Nicht nur an dieser Stelle. Christi Tod sei das endgültige, unüberbietbare Opfer. Es bedarf keiner Wiederholung. Es gilt eben ein für allemal.
Viel Streit gibt es gegenwärtig um diese Deutung des Todes Christi als Opfer. Was theologisch richtig sein mag, ist eben noch lange nicht für alle Menschen plausibel. Und schon gar nicht allgemeinverständlich. Der Opfergedanke, so wie die Menschen ihn damals verstanden, ist für uns schon lnicht mehr so einfach nachvollziehbar. Der befreiende Sinn eines Opfers ist uns verloren gegangen.
Wenn einer sich aufopfert, so wie wir das verstehen - für seine Firma, für einen Verein, für seine Angehörigen, da ist doch er oder sie selber schuld, wenn ihm alles über den Kopf wächst. Wer seine Zeit opfert, will Anerkennung haben. Oder ist auf Erfolg aus.
Unsinnige Opfer fordern heutzutage weltweit die vielen großen und kleinen Kriege. Kriegsopfer. Unsinnige Opfer fordert auch der Straßenverkehr. Verkehrsopfer. Schmerzliche Opfer sind das. Zum Heil, wie es im Predigtext im Blick auf Christus heißt, geschehen diese Opfer wahrhaftig nicht.
Wir dienen häufig anderen Göttern. Dem Gott Erfolg etwa. Oder dem Gott Leistung. Dem Gott Konsum. Dem Gott Freizeit oder auch Urlaub. Manchmal auch dem Gott: "Das ist eben mein Recht!" Auch unsere Arbeit, unsere vielen Pläne und Vorhaben, unsere terminlichen Verpflichtungen können für uns zu Göttern werden. Sie können der Erkenntnis Gottes und seiner Menschenfreundlichkeit in Christus sehr wohl im Wege stehen. Und als Götzen und Götter Kraft entfalten, die unserer Gesellschaft anscheinend wichtig, ja heilig sind.
Auch Christus haben wir heute vielfach längst geopfert. Aber anders, als das der Hebräerbrief meint. Christus opfern wir, indem wir ihn dran geben. Wir opfern ihn, indem wir sagen: Auf das, was wir von diesem Christus hören und was wir von ihm lernen können, können wir doch ganz gut verzichten.
Das Opfer, von dem der Hebräerbrief spricht, hat eine andere Perspektive. Es eröffnet Zukunft. Es ist Sinn stiftend. Was geschehen ist an diesem ersten Karfreitag – was uns zugesagt wird für das Ende der Zeiten, die noch kommen, das umschreibt der Schreiber des Hebräerbriefes mit dem Ausdruck „Heil“. Natürlich ist auch mit diesem Wort schon viel Schindluder getrieben worden. Und vielleicht wäre es deshalb besser, einfach vom Glück zu sprechen. Am Ende kommt es Gott darauf an, dass wir glücklich werden. Diese Zusage lässt uns sogar den Karfreitag aushalten.
Eine dritte Form, mit dem Karfreitag fertig zu werden, ihn auszuhalten, das ist die, seine Botschaft singend zu bewältigen. Choräle gehören insbesondere zur Tradition unserer evangelischen Kirche seit den Tagen der Reformation dazu. Es gibt kaum einen Gottesdienst am Karfreitag, in dem nicht das Lied gesungen wird, das wir eingangs gesungen haben. Das Lied „O Haupt voll Blut und Wunden“.
Mit Hilfe eines anderen Passionsliedes möchte ich mit Ihnen einen dritten Blick auf das werfen, was sich am Karfreitag ereignet hat. Die ersten beiden Strophen dieses Liedes haben wir schon gesungen. Jetzt singen wir Strophe 3:
EG 87,3: Dein Kampf ist unser Sieg
Von Adam Thebesius haben wir nur dieses eine Lied im Gesangbuch. Allzuviel wissen wir auch nicht von ihm. Er war schlesischer Pfarrer. Gelebt hat er im 17. Jahrhundert. Sehr alt ist er nicht geworden. Mit 56 Jahren ist er schon gestorben. Früh gestorben sind auch vier seiner acht Kinder. Darin erinnert er durchaus an Paul Gerhardt.
Seinen Glauben hat Adam Thebesius darüber nicht verloren. Gerade der Karfreitag war ihm besonders wichtig. Dessen Bedeutung wollte er auch singend erfassen und beschreiben. Dabei bediente er sich einer einfachen und verständlichen Sprache.
Die dritte Strophe, die wir eben auch schon gesungen haben, sie ist die Schlüsselstrophe.
Dein Kampf ist unser Sieg.
Dein Tod ist unser Leben.
In deinen Banden ist die Freiheit uns gegeben.
Dein Kreuz ist unser Trost.
Die Wunden unser Heil.
Dein Blut das Lösegeld, der armen Sünder Teil.
Von einer kompletten Umdeutung, besser einer Umschichtung des Vertrauten dichtet Adam Thebesius hier. Alles Schwere und Belastende, alles Tödliche sieht er auf die Seite Christi gelegt: Kampf, Fesseln, Kreuz und Tod. Auf unserer Seite verortet er das, was uns leben lässt: Trost und Freiheit. Sieg und Leben.
Ein fröhlicher Tausch ist das. Ein Tausch zu unseren Gunsten. Dieser Tausch zu unseren Gunsten ist nichts Neues. Wir finden diesen Gedanken auch schon in den Liedern zu Weihnachten. Am schönsten und klarsten im Lied „Lobt Gott, ihr Christen, alle gleich“. „Er wechselt mit uns wunderlich“, heißt es da in einer Strophe. Und in einer anderen: „Er wird ein Knecht und ich ein Herr, das mag ein Wechsel sein.“
Gott wechselt die Seiten – zu unseren Gunsten. Zu unserem Glück. Einiges an Einsatz wird auch uns dabei abverlangt. Davon handelt die nächste, die 4. Strophe, die wir jetzt miteinander singen.
EG 87,4: O hilf, dass wir auch uns
Eine Mutmachstrophe ist diese vierte Strophe. Eine Strophe, der eine sehr realistische Einsicht zugrunde liegt. Lasten werden niemandem im Leben erspart. Leiden gehört meist irgendwie dazu. Ohne dass wir es erst eigens suchen müssten.
Wir müssen dieses Leiden nicht messen. Und schon gar nicht vergleichen. Weder untereinander. Noch gar mit dem Leiden Jesu. Vergleiche tun uns meist nicht gut. Sie stürzen uns eher ins Unglück.
Der Sinn des Karfreitags erschließt sich auch nicht im Vergleich der Schwere des Leidens, das Menschen anderen zumuten. Dieses Leiden hat sein Ziel darin, dass es anderen zugut geschieht. Dass da einer eintritt für andere. Dass da einer die Auseinandersetzung nicht scheut. Dass da einer die Wahrheit nicht dran gibt. Und dass in diesem einen sich Gott zu erkennen gibt.
Stellvertretend handelnd für andere. In einem Akt der Hingabe. Im Handeln aus Liebe. Im Eintreten für die, denen die Kraft dazu fehlt. Oder abhanden gekommen ist. Die Jahreslosung kommt mir in den Sinn. „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ Wo wir nur noch Scherben sehen, da sieht Gott das Ganze. Wo wir das Ende beklagen, da lässt uns Gott zu einem neuen Anfang finden. In diesem fröhliche Tausch, der uns auf die Seite des Gelingens rückt. Der uns Freiheit und Leben zusagt.
Daher macht mir die erste Strophe des Liedes durchaus Mühe. Zumindest an einer Stelle. „Vom Vater so geschlagen!“ Ich bin sicher: Es ist nicht Gott, der schlägt. Es ist Gott, der geschlagen und geschunden wird. Der sich schlagen und schinden lässt – uns zugut.
Gott ist kein Gott, der das Leid anderer braucht, um dem Recht zum Durchbruch zu verhelfen. Gott will diesem Leid, dieser Kette ununterbrochenen Unrechts ein Ende bereiten. Gott ist einer, der dazwischen geht. Der das Risiko nicht scheut. Der nicht einmal dem Tod aus dem Weg geht. Ihm aber das letzte Wort allemal nicht überlässt.
Nicht im Leiden handelt Gott. Gott handelt vielmehr am Ostermorgen. Indem er den ins Recht setzt, den andere zu Unrecht verlacht und verhöhnt haben. Den andere zu Tode brachten, weil sie sich auf der sicheren Seite wähnten.
Weil Gott handelt am Ostermorgen, deshalb können wir sicher sein: Gott hält sich auch am Karfreitag nicht schadlos. Bringt sich nicht in Sicherheit. Wo wir Gottes Abwesenheit am stärksten beklagen, da ist er zu finden. Gerade am Karfreitag gilt: Gott ist mittendrin. In der Welt. Mitten unter den Menschen.
Mensch geworden ist Gott an unserer Seite. Tritt an unsere Stelle. Die Geschehnisse des Karfreitag –sie mögen unerträglich sein. Aber die Botschaft des Karfreitag - sie lässt uns leben! Das dürfen wir auch heute schon feiern. Weil es der Auferstandene ist, der uns an seine Tisch lädt. Auch heute. Damit wir den Karfreitag aushalten können. Amen.
EG 87,5+6: Dein Angst kommt uns zugut/i>