LUTHER - EINER VON UNS
PREDIGT ÜBER GENESIS 3,1-6.22-24
GEHALTEN AM SONNTAG, DEN 5.3.2017 (INVOCAVIT)
IN DER LUTHER-KIRCHE IN KARLSRUHE
05.03.2017
Liebe Gemeinde!
Es lebt sich doch wirklich nicht schlecht - jenseits von Eden.
Da wird der Mensch aus dem Paradies verbannt. Da hat er die Möglichkeit eines Lebens in der Unmittelbarkeit Gottes verloren. Und landet doch nicht einfach nur in Unwirtlichkeit und Unbehaustheit. Lebt keineswegs nur in unparadiesischen Zuständen. Sondern der Mensch lebt sein Leben, gezeichnet von der Möglichkeit der Bewahrung. Und geprägt von all dem, was unser Leben schön und wertvoll macht.
„Ja, sollte Gott gesagt haben, ihr würdet euer Leben da draußen nur noch fristen – ihr würdet es nicht mehr genießen können?“ Deutlich höre ich das verräterische Zischen der Schlange. „Mitnichten wird es euch so ergehen! Ihr werdet das Leben da draußen nicht mehr vermissen wollen!“
Gefährliche Wahrheiten, die die Schlange da von sich gibt. Da leben wir also vor den Pforten des Paradieses. Und was immer der Mensch hervorgebracht hat an Kultur und an all dem, was das Leben schön und lebenswert macht – es hat diesem Ort vor den Pforten des Paradieses seinen Ursprung zu verdanken. Landwirtschaft und Städtebau, Wissenschaft und politischer Gestaltungswille, bildende Kunst und Architektur, Musik und Literatur, Philosophie und Religion – all dies hat unseren Lebensraum vor dem Paradies erträglich, ja meist sogar überaus lebenswert gemacht.
Und der Baum des Lebens, vor dem Gott ihn bewahren will – immer wieder denke ich, er ist gefährlich nah in Griffweite geraten.
Und die beeindruckenden Ergebnisse künstlerischen Schaffens von Harald Birck – diese zweiundzwanzig Luther-Büsten, die sich als Menschen der nächsten und der gerade vergangenen Zeitgenossenschaft entpuppen: Sind sie Ausdruck kulturellen Schaffens, um das Leben vor den Pforten des Paradieses in ein schönes Licht zu rücken – oder geben sie uns darüber hinaus Orientierung - zurück an den paradiesischen Ursprung dieser Reise des Menschen, die mit diesem ersten „Sollte Gott gesagt haben“ ihren Ausgang genommen hat?
Heute feiern wir den ersten Sonntag der Passionszeit. Den Sonntag Invocavit. Und Predigten am Sonntag Invocavit haben es in sich. Nicht nur heute. Und nicht erst heute.
Kirche ist immer anders als wir sie uns vorstellen. Versetzen sie sich mit mir 495 Jahre zurück. Wohin? Natürlich nach Wittenberg. In das Jahr 1522. In Wittenberg werden evangelische Gottesdienste gefeiert. Ohne das übliche Messgewand. In deutscher Sprache. Abendmahl wird gefeiert mit Brot und Wein. In beiderlei Gestalt also, wie man dazu sagt.
Einzig, dass die Bilder aus den Kirchen entfernt werden, unterscheidet die Situation von der Normalität der unsrigen. Aber die kleine Welt Wittenbergs ist außer Rand und Band. Die Reformation drängt schneller nach vorn als es manchem recht ist. Martin Luther ist schon damals einer von uns. Als Junker Jörg reiht er sich ein in die ritterlich geprägte Welt seiner Zeit. Nicht ganz freiwillig. Sondern weil ihm sein Landesherr auf diese Weise vor der kaiserlichen Acht schützt und sein Leben bewahrt.
Aber Luther spürt, dass ihm der Prozess der Kirchenreform entgleitet. Plötzlich hält ihn nichts mehr in seinem Versteck. Er steigt in Wittenberg auf die Kanzel. Und fängt an zu predigen. Am Sonntag Invocavit des Jahres 1522. Und an den folgenden sieben Tagen. Wie gesagt: Invocavit-Predigten haben es in sich. Und ich habe ja nur eine. Und keine acht in Folge.
Und wie es bei vielen Reformen und Revolutionen ist, zumal in der Kirche: Jetzt wird das Tempo der Veränderungen gedrosselt. Am Ende setzt sich der mittlere Weg durch. Luthers Invocavit-Predigten haben die Entschleunigung zum Ziel. Und ich frage mich schon: Ist heute nicht anderes angesagt? An Entschleunigungs-Predigern haben wir schließlich keinen Mangel. Aber wer sorgt bei uns für das rechte Tempo? Und wer gibt mutig die Orientierung vor, wenn es um die Frage nach der Kirche der Zukunft geht?
Kirche ist immer anders als wir sie uns vorstellen. Luther – einer von uns! Das ist nicht nur ein künstlerischer Rahmen. Das ist ein ganzes theologisches Programm. Es könnte zumindest eines werden. Martin Luther war nie in Karlsruhe. Karlsruhe ist dazu zu spät in den Gang der Geschichte getreten. Obgleich sich die badischen Landesherren sehr früh der Reformation zugewandt haben.
Karlsruhe ist also keine Stadt der Reformation. Und doch hat der Künstler Harald Birck Karlsruhe zu einer Reformationsstadt gemacht. Wenn auch in einem anderen als dem üblichen Verständnis. Die zweiundzwanzig Skulpturen tragen ein ganzes Programm in sich. „Luther – einer von uns“ – dieses Thema ist so gefährlich wie eine Invocavit-Predigt.
Normalerweise, ja fast über fünf Jahrhunderte, war Luther keiner von uns. Den einen ist er als eine Inkarnation des Teufels erschienen – denen, die um den Verlust der eigenen Macht und um den Zusammenbruch der vertrauten Ordnung gefürchtet haben.
Für die anderen war Luther ein Idol. Einer, den man nur auf einem Sockel ertragen konnte. Einer, der in einer anderen Liga des Glaubens spielt. Der Erfinder des „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“ Einer, nachdem man Kirchen benennt wie diese hier. Eine Art protestantischer Heiliger – obwohl man protestantischerseits gerade Heilige ja überhaupt nicht haben wollte.
An „Luther – einer von uns“ war überhaupt nicht zu denken. Bei einem von uns, da hätte man Gefahr laufen können, auch auf dunkle Anteile der Persönlichkeit zu stoßen. Auf Fremdenfeindlichkeit. Auf Gewaltphantasien. Auf Spuren des Antisemitismus gar. Eben auf all das, was wir bei Luther doch auch längst entdeckt haben.
Aber „Luther – einer von uns“ – das ist eben auch einer, der uns in der Bodenständigkeit seiner Existenz nahe ist. In seinen Zweifeln an der Menschenfreundlichkeit Gottes. In den Gaben gelingender Kommunikation. „Luther – einer von uns“ – das dreht die Weise unserer Annäherung an Luther einfach um. Stellt sie auf den Kopf.
Luther – plötzlich einer auf Augenhöhe. Wie die Zweiundzwanzig hier in dieser Kirche. Und mit Luther finden wir uns gemeinsam vor jenen Pforten des Paradieses wieder. Mit ihm machen wir uns auf die Suche, wie wir den Folgen der Verbannung aus der Gottunmittelbarkeit entgehen können.
Die zweiundzwanzig Karlsruher Luther-Büsten sind für uns Gewährsleute und Identifikationsfiguren zugleich. Stellvertretend stehen sie für alle, die nach dem Woher und nach dem Wohin ihres Lebens fragen. Stellvertretend für alle, deren Antworten Teil ihrer Suche nach Sinn, ja letztlich auch ihrer Suche nach Gott sind.
Kirche ist immer anders als wir sie uns vorstellen. Das gilt auch für die Gemeinsamkeit in der Kirche, die ihren Ausgang nimmt vor den Pforten des Paradieses. Kirche lebt davon, dass die Grenzen ins Fließen kommen. Die Grenzen zwischen innen und außen. Die Grenzen zwischen dem Paradies und den Lebensorten davor. „Der Cherub steht nicht mehr dafür!“ – das singen wir nicht ohne Grund an Weihnachten.
Aber einen Weg einfach zurück ins Paradies, zurück in den Garten Eden, gibt es dennoch nicht. Was bleibt ist die Brüchigkeit, die Zweideutigkeit unserer Existenz. Gelingendes Lebens ist möglich. Aber nicht ohne die Erfahrung des Fragmentarischen.
Gott rückt uns immer wieder nahe. Aber nicht so, als dass wir seine fehlende, seine ausbleibende Nähe nicht immer wieder auch zu beklagen hätten. Simul iustus, simul peccator – so fasst Luther diese Ambivalenz, diese Zwiespältigkeit unserer Existenz zusammen.
Das Paradies und der Ort vor seinen Toren – sie sind nicht länger zwei deutlich voneinander getrennte Orte. Sie fallen in eins – freilich ohne ineinander aufzugehen. Wo ich mich wiederfinde – ob im Paradies oder draußen vor – das entscheidet sich an dem, was Luther Glauben genannt hat. Das entscheidet sich an dem, in dem Gott einer von uns wurde – ohne zugleich auch ein ganz anderer zu bleiben.
Welches Gesicht ich in den Zweiundzwanzig entdecke und wahrnehme – den von Gott getrennten oder den von Gott ins Recht gesetzten Menschen – das hängt davon ab, worin ich mein eigenes Leben gründe. Und worauf mein einziger Trost im Leben und im Sterben beruht – auch wenn dieser letzte Satz nicht aus Wittenberg, sondern aus Heidelberg stammt.
„Luther – einer von uns“ – das geht, weil Gott selber sich als einer von uns zu erkennen gibt. Diese Erkenntnis braucht keine Entschleunigung. Sie braucht vielmehr erfolgreiche Formen der Kommunikation. Sie braucht eine Kirche, die auch mal Tempo machen kann, ehe sie unter die Räder verpasster Momente gerät. Sie braucht – ein ums andere Mal - Invocavit-Predigten.
Kirche ist immer anders als wir sie uns vorstellen. Auch was die Konsequenzen aus der Reformation angeht. Was hat sich da alles getan in diesen letzten 500 Jahren. Was ist da alles möglich geworden. Im innerprotestantischen Gespräch. Da waren die Gräben lange Zeit gewaltig. Im Gespräch zwischen den Konfessionen, gerade auch mit der katholischen Kirche, der Luther ja entstammt.
Was ist heute denkbar, was ist notwendig und unumgänglich im Gespräch zwischen den Religionen. Und mit denen, die ihr Leben anders gründen und anders deuten als in ausschließlich religiösen Kategorien.
Gerne wäre ich mit den Zweiundzwanzig ins Gespräch gekommen. Hätte den einen oder die andere nach ihrem Glauben gefragt. Und ich bin sicher – am Ende hätte das Thema dieser Aktion eine noch weitere Perspektive erhalten. Nicht nur Luther – einer von uns. Sondern eben auch: Luther – einer von uns!
Und mit einem Male erweise sich Karlsruhe doch als eine Stadt der Reformation. Weil die Überzeugung sich Bahn bricht, dass ich nicht länger glauben kann in Abgrenzung von den anderen. Dass ich leichter zu Gott finde, wenn ich mich mit denen auf den Weg mache, die Spuren deuten können, die ich gar nicht im Blick habe.
Eine Stadt der Reformation wird Karlsruhe in diesem Jahr auf alle Fälle sein. Eine Stadt der Reformation zu sein, das bedeutet nicht einfach nur, stolz zurückblicken zu können auf ein historisches Erbe. Das bedeutet vielmehr, die Botschaft der Reformation angemessen und innovativ zu kommunizieren. In der Gegenwart. Und für die Zukunft. So wie mit diesen zweiundzwanzig Luther-Büsten von Harald Birck.
Eine Stadt der Reformation ist diese Stadt doch auch, weil sich eben nicht nur zweiundzwanzig auf die Suche gemacht haben. Und nicht nur Luther allein die Richtung gewiesen hat. So sehr wir uns in diesem Jahr auch an seinem Kompass des Glaubens orientieren.
Es ist richtig: Luther - einer von uns, ist am Ende eben doch auch nur einer von uns. Oder in der Freiheit des Invocavit-Predigers gefragt: Sind wir nicht alle ein bisschen Luther? Ehrlich gesagt: Ich denke schon! Und wirklich schaden wird diese Erkenntnis niemandem. Im Gegenteil. Amen.
Es lebt sich doch wirklich nicht schlecht - jenseits von Eden.
Da wird der Mensch aus dem Paradies verbannt. Da hat er die Möglichkeit eines Lebens in der Unmittelbarkeit Gottes verloren. Und landet doch nicht einfach nur in Unwirtlichkeit und Unbehaustheit. Lebt keineswegs nur in unparadiesischen Zuständen. Sondern der Mensch lebt sein Leben, gezeichnet von der Möglichkeit der Bewahrung. Und geprägt von all dem, was unser Leben schön und wertvoll macht.
„Ja, sollte Gott gesagt haben, ihr würdet euer Leben da draußen nur noch fristen – ihr würdet es nicht mehr genießen können?“ Deutlich höre ich das verräterische Zischen der Schlange. „Mitnichten wird es euch so ergehen! Ihr werdet das Leben da draußen nicht mehr vermissen wollen!“
Gefährliche Wahrheiten, die die Schlange da von sich gibt. Da leben wir also vor den Pforten des Paradieses. Und was immer der Mensch hervorgebracht hat an Kultur und an all dem, was das Leben schön und lebenswert macht – es hat diesem Ort vor den Pforten des Paradieses seinen Ursprung zu verdanken. Landwirtschaft und Städtebau, Wissenschaft und politischer Gestaltungswille, bildende Kunst und Architektur, Musik und Literatur, Philosophie und Religion – all dies hat unseren Lebensraum vor dem Paradies erträglich, ja meist sogar überaus lebenswert gemacht.
Und der Baum des Lebens, vor dem Gott ihn bewahren will – immer wieder denke ich, er ist gefährlich nah in Griffweite geraten.
Und die beeindruckenden Ergebnisse künstlerischen Schaffens von Harald Birck – diese zweiundzwanzig Luther-Büsten, die sich als Menschen der nächsten und der gerade vergangenen Zeitgenossenschaft entpuppen: Sind sie Ausdruck kulturellen Schaffens, um das Leben vor den Pforten des Paradieses in ein schönes Licht zu rücken – oder geben sie uns darüber hinaus Orientierung - zurück an den paradiesischen Ursprung dieser Reise des Menschen, die mit diesem ersten „Sollte Gott gesagt haben“ ihren Ausgang genommen hat?
Heute feiern wir den ersten Sonntag der Passionszeit. Den Sonntag Invocavit. Und Predigten am Sonntag Invocavit haben es in sich. Nicht nur heute. Und nicht erst heute.
Kirche ist immer anders als wir sie uns vorstellen. Versetzen sie sich mit mir 495 Jahre zurück. Wohin? Natürlich nach Wittenberg. In das Jahr 1522. In Wittenberg werden evangelische Gottesdienste gefeiert. Ohne das übliche Messgewand. In deutscher Sprache. Abendmahl wird gefeiert mit Brot und Wein. In beiderlei Gestalt also, wie man dazu sagt.
Einzig, dass die Bilder aus den Kirchen entfernt werden, unterscheidet die Situation von der Normalität der unsrigen. Aber die kleine Welt Wittenbergs ist außer Rand und Band. Die Reformation drängt schneller nach vorn als es manchem recht ist. Martin Luther ist schon damals einer von uns. Als Junker Jörg reiht er sich ein in die ritterlich geprägte Welt seiner Zeit. Nicht ganz freiwillig. Sondern weil ihm sein Landesherr auf diese Weise vor der kaiserlichen Acht schützt und sein Leben bewahrt.
Aber Luther spürt, dass ihm der Prozess der Kirchenreform entgleitet. Plötzlich hält ihn nichts mehr in seinem Versteck. Er steigt in Wittenberg auf die Kanzel. Und fängt an zu predigen. Am Sonntag Invocavit des Jahres 1522. Und an den folgenden sieben Tagen. Wie gesagt: Invocavit-Predigten haben es in sich. Und ich habe ja nur eine. Und keine acht in Folge.
Und wie es bei vielen Reformen und Revolutionen ist, zumal in der Kirche: Jetzt wird das Tempo der Veränderungen gedrosselt. Am Ende setzt sich der mittlere Weg durch. Luthers Invocavit-Predigten haben die Entschleunigung zum Ziel. Und ich frage mich schon: Ist heute nicht anderes angesagt? An Entschleunigungs-Predigern haben wir schließlich keinen Mangel. Aber wer sorgt bei uns für das rechte Tempo? Und wer gibt mutig die Orientierung vor, wenn es um die Frage nach der Kirche der Zukunft geht?
Kirche ist immer anders als wir sie uns vorstellen. Luther – einer von uns! Das ist nicht nur ein künstlerischer Rahmen. Das ist ein ganzes theologisches Programm. Es könnte zumindest eines werden. Martin Luther war nie in Karlsruhe. Karlsruhe ist dazu zu spät in den Gang der Geschichte getreten. Obgleich sich die badischen Landesherren sehr früh der Reformation zugewandt haben.
Karlsruhe ist also keine Stadt der Reformation. Und doch hat der Künstler Harald Birck Karlsruhe zu einer Reformationsstadt gemacht. Wenn auch in einem anderen als dem üblichen Verständnis. Die zweiundzwanzig Skulpturen tragen ein ganzes Programm in sich. „Luther – einer von uns“ – dieses Thema ist so gefährlich wie eine Invocavit-Predigt.
Normalerweise, ja fast über fünf Jahrhunderte, war Luther keiner von uns. Den einen ist er als eine Inkarnation des Teufels erschienen – denen, die um den Verlust der eigenen Macht und um den Zusammenbruch der vertrauten Ordnung gefürchtet haben.
Für die anderen war Luther ein Idol. Einer, den man nur auf einem Sockel ertragen konnte. Einer, der in einer anderen Liga des Glaubens spielt. Der Erfinder des „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“ Einer, nachdem man Kirchen benennt wie diese hier. Eine Art protestantischer Heiliger – obwohl man protestantischerseits gerade Heilige ja überhaupt nicht haben wollte.
An „Luther – einer von uns“ war überhaupt nicht zu denken. Bei einem von uns, da hätte man Gefahr laufen können, auch auf dunkle Anteile der Persönlichkeit zu stoßen. Auf Fremdenfeindlichkeit. Auf Gewaltphantasien. Auf Spuren des Antisemitismus gar. Eben auf all das, was wir bei Luther doch auch längst entdeckt haben.
Aber „Luther – einer von uns“ – das ist eben auch einer, der uns in der Bodenständigkeit seiner Existenz nahe ist. In seinen Zweifeln an der Menschenfreundlichkeit Gottes. In den Gaben gelingender Kommunikation. „Luther – einer von uns“ – das dreht die Weise unserer Annäherung an Luther einfach um. Stellt sie auf den Kopf.
Luther – plötzlich einer auf Augenhöhe. Wie die Zweiundzwanzig hier in dieser Kirche. Und mit Luther finden wir uns gemeinsam vor jenen Pforten des Paradieses wieder. Mit ihm machen wir uns auf die Suche, wie wir den Folgen der Verbannung aus der Gottunmittelbarkeit entgehen können.
Die zweiundzwanzig Karlsruher Luther-Büsten sind für uns Gewährsleute und Identifikationsfiguren zugleich. Stellvertretend stehen sie für alle, die nach dem Woher und nach dem Wohin ihres Lebens fragen. Stellvertretend für alle, deren Antworten Teil ihrer Suche nach Sinn, ja letztlich auch ihrer Suche nach Gott sind.
Kirche ist immer anders als wir sie uns vorstellen. Das gilt auch für die Gemeinsamkeit in der Kirche, die ihren Ausgang nimmt vor den Pforten des Paradieses. Kirche lebt davon, dass die Grenzen ins Fließen kommen. Die Grenzen zwischen innen und außen. Die Grenzen zwischen dem Paradies und den Lebensorten davor. „Der Cherub steht nicht mehr dafür!“ – das singen wir nicht ohne Grund an Weihnachten.
Aber einen Weg einfach zurück ins Paradies, zurück in den Garten Eden, gibt es dennoch nicht. Was bleibt ist die Brüchigkeit, die Zweideutigkeit unserer Existenz. Gelingendes Lebens ist möglich. Aber nicht ohne die Erfahrung des Fragmentarischen.
Gott rückt uns immer wieder nahe. Aber nicht so, als dass wir seine fehlende, seine ausbleibende Nähe nicht immer wieder auch zu beklagen hätten. Simul iustus, simul peccator – so fasst Luther diese Ambivalenz, diese Zwiespältigkeit unserer Existenz zusammen.
Das Paradies und der Ort vor seinen Toren – sie sind nicht länger zwei deutlich voneinander getrennte Orte. Sie fallen in eins – freilich ohne ineinander aufzugehen. Wo ich mich wiederfinde – ob im Paradies oder draußen vor – das entscheidet sich an dem, was Luther Glauben genannt hat. Das entscheidet sich an dem, in dem Gott einer von uns wurde – ohne zugleich auch ein ganz anderer zu bleiben.
Welches Gesicht ich in den Zweiundzwanzig entdecke und wahrnehme – den von Gott getrennten oder den von Gott ins Recht gesetzten Menschen – das hängt davon ab, worin ich mein eigenes Leben gründe. Und worauf mein einziger Trost im Leben und im Sterben beruht – auch wenn dieser letzte Satz nicht aus Wittenberg, sondern aus Heidelberg stammt.
„Luther – einer von uns“ – das geht, weil Gott selber sich als einer von uns zu erkennen gibt. Diese Erkenntnis braucht keine Entschleunigung. Sie braucht vielmehr erfolgreiche Formen der Kommunikation. Sie braucht eine Kirche, die auch mal Tempo machen kann, ehe sie unter die Räder verpasster Momente gerät. Sie braucht – ein ums andere Mal - Invocavit-Predigten.
Kirche ist immer anders als wir sie uns vorstellen. Auch was die Konsequenzen aus der Reformation angeht. Was hat sich da alles getan in diesen letzten 500 Jahren. Was ist da alles möglich geworden. Im innerprotestantischen Gespräch. Da waren die Gräben lange Zeit gewaltig. Im Gespräch zwischen den Konfessionen, gerade auch mit der katholischen Kirche, der Luther ja entstammt.
Was ist heute denkbar, was ist notwendig und unumgänglich im Gespräch zwischen den Religionen. Und mit denen, die ihr Leben anders gründen und anders deuten als in ausschließlich religiösen Kategorien.
Gerne wäre ich mit den Zweiundzwanzig ins Gespräch gekommen. Hätte den einen oder die andere nach ihrem Glauben gefragt. Und ich bin sicher – am Ende hätte das Thema dieser Aktion eine noch weitere Perspektive erhalten. Nicht nur Luther – einer von uns. Sondern eben auch: Luther – einer von uns!
Und mit einem Male erweise sich Karlsruhe doch als eine Stadt der Reformation. Weil die Überzeugung sich Bahn bricht, dass ich nicht länger glauben kann in Abgrenzung von den anderen. Dass ich leichter zu Gott finde, wenn ich mich mit denen auf den Weg mache, die Spuren deuten können, die ich gar nicht im Blick habe.
Eine Stadt der Reformation wird Karlsruhe in diesem Jahr auf alle Fälle sein. Eine Stadt der Reformation zu sein, das bedeutet nicht einfach nur, stolz zurückblicken zu können auf ein historisches Erbe. Das bedeutet vielmehr, die Botschaft der Reformation angemessen und innovativ zu kommunizieren. In der Gegenwart. Und für die Zukunft. So wie mit diesen zweiundzwanzig Luther-Büsten von Harald Birck.
Eine Stadt der Reformation ist diese Stadt doch auch, weil sich eben nicht nur zweiundzwanzig auf die Suche gemacht haben. Und nicht nur Luther allein die Richtung gewiesen hat. So sehr wir uns in diesem Jahr auch an seinem Kompass des Glaubens orientieren.
Es ist richtig: Luther - einer von uns, ist am Ende eben doch auch nur einer von uns. Oder in der Freiheit des Invocavit-Predigers gefragt: Sind wir nicht alle ein bisschen Luther? Ehrlich gesagt: Ich denke schon! Und wirklich schaden wird diese Erkenntnis niemandem. Im Gegenteil. Amen.