PREDIGT
ÜBER HEBRÄER 9,15.26B-28
AM FREITAG DEN 30. MÄRZ 2018
(KARFREITAG)
IN DER HEILIGGEISTKIRCHE IN HEIDELBERG

30.03.2018
Liebe Gemeinde!

Opfer - kann man davon noch reden? Müssen wir nicht davon reden - gerade heute, am Karfreitag! Die Bilder gingen um die Welt. Da überfällt ein Terrorist in Südfrankreich einen Supermarkt und nimmt Menschen als Geiseln. Ein mutiger Polizist lässt sich gegen die letzte verbliebene Geisel, eine Verkäuferin des Supermarktes, austauschen. Dieser Tausch endet für ihn tödlich. Der Attentäter bringt ihm lebensgefährliche Verletzungen bei. Arnauld Beltrame, der Polizist stirbt an diesen Verletzungen. Am 23. März hat sich dieser Überfall zugetragen, genau heute vor einer Woche. Ein Mensch opfert sich für einen anderen. Im buchstäblichen Sinn. Irgendwie Karfreitag, habe ich gedacht - eine Woche vor Karfreitag.

Opfer - kann man davon noch reden? Müssen wir nicht davon reden - gerade heute, am Karfreitag! Ich weiß, es ist ein kühner Gedanke: Ein Mensch stellt sich an den Platz eines anderen Zieht auf sich, was auf andere gemünzt war. Lebt nicht nach den Regeln eines ausbalancierten Tausches. Eines deals: Gibst du mir etwas, bekommst du etwas zurück!

Nein! Leben so verstanden, bedeutet, dass ich in Vorleistung trete. Indem ich auf einen anderen Menschen setze, ohne dass das auf guten Erfahrungen mit ihm beruht. Ohne dass dieser Mensch sich das hätte verdienen können. Leben in Vorleistung. Leben aus dem Grundvertrauen heraus, dass ich die Welt nur verändern kann zum Guten, wenn ich diese Möglichkeit nicht nur von anderen erwarte. Sondern selber damit beginne. Leben, in dem ich meinen Vorteil drangebe. Ihn opfere.

Der Opfergedanke rückt uns Menschen heute zunehmend fern. Unsinnig, viel zu häufig sinnlos sind die Opfer, zu denen Menschen sich nicht freiwillig entscheiden. Stattdessen viel zu oft: Opfer, zu denen Menschen werden, zu denen Menschen gemacht werden, ohne ihren eigenen Willen.

Kriegsopfer, von denen am Ende nur der Name auf einem Gedenkstein bleibt. Oder die zum Namensgeber einer Kaserne werden, um ihr Opfer vor dem Vergessen zu bewahren. Verkehrsopfer, vor denen auch das autonome Fahren, wie wir wissen, nicht mit letzter Sicherheit bewahrt. Schmerzliche Opfer sind das nicht selten. Unsinnige Opfer. So, denke, ich, kann das Opfer, um das es an Karfreitag geht, nicht gemeint sein.

Opfer - kann man davon noch reden? Müssen wir nicht davon reden - gerade heute, am Karfreitag! Unstrittig ist dabei: Am Karfreitag kommen wir nicht darum herum, uns auf die Suche nach einer Antwort auf diese Frage zu machen. Unerträglich, was sich da abgespielt hat an diesem ersten Karfreitag! Ein grässlicher Tod. Einer der tatsächlich zum Opfer wird. Macht, die ihr hässliches Gesicht zeigt. Pilatus und Herodes, Kaiphas und Hannas, alle ohne Skrupel, ihre Interessen durchzusetzen.

Wieso halten wir das aus? Wieso treibt uns dieser Justizmord nicht Wut und Abscheu ins Gesicht? Stattdessen: Kruzifixe, die Kirchen und Gerichtssäle zieren. Passionsmusik, die wir uns in Konzertkleidung zu Gemüte führen. Das Kreuz als Accessoire, an einer Kette um den Hals getragen! Nein, schön ist dieser Tod nicht. Und wir hätten keinen Grund uns zu erinnern, wir hätten keinen Anlass Gottesdienst zu feiern, wenn damals das letzte Wort gesprochen worden wäre. Wenn mit dieser Kreuzbeschriftung des Pilatus, mit diesen vier Buchstaben INRI, Jesus von Nazareth, König der Juden, die die viele Kruzifixe zieren, - wenn so die Akte geschossen worden wäre.

Ertragen können wir das Geschehen dieses Freitags damals und diesen Karfreitag heute - ertragen können wir ihn nur, weil aus der Zukunft Licht auf ihn fällt. Weil wir ihn immer schon Licht der Ostern sehen. Und verstehen - wenn überhaupt. Weil wir gewissermaßen hinter der Bühne sitzen. Weil wir wissen - der Karfreitag ist nicht das Ende. Er ist erst der Anfang einer neuen Geschichte. Einer Geschichte vom Sieg des Lebens über den Tod.

Erträglich werden die Ereignisse des Karfreitags, weil wir ihnen etwas abspüren, das über das bloße Faktum eines Justizmordes hinausweist. Weil am Ende Ostern dieses Opfer in ein neues Licht rückt.

Es gibt verschiedenen Weisen, im Holz des Kreuzes schon den Lebensbaum zu erahnen. Es gibt verschiedene Zugänge, um bereits im Tod den Geschmack des Lebens herauszuschmecken.

Einer der Wege ist, auf die Geschichte des Karfreitags zu hören. Der Bericht des Evangelisten Johannes haben wir vorhin als Lesung gehört. Gerade der Bericht des Evangelisten Johannes hat seine ganze besondere Prägung. Bei Johannes liegt schon im Tod der Schlüssel, um diesen Karfreitag besser zu verstehen. Es ist vollbracht! Schon jetzt. Nicht erst dann, wenn das Grab wieder leer ist. Nicht erst am Ostersonntagmorgen.

Die erinnernde Erzählung, die Berichte der Evangelisten - das ist ein Weg, durch den Karfreitag hindurch und über den Karfreitag hinaus zu kommen.

Es gibt noch eine zweite Weise, lebensdienlich mit dem Karfreitag umzugehen. Nämlich die Form der theologischen Deutung. Der Kronzeuge dieses Umgangs ist in aller Regel der Apostel Paulus. In seinen Briefen finden sich viele Texte, die den Karfreitag in dieser Weise ausleuchten. Christus, der Gekreuzigte, macht für Paulus geradezu den Kern des Evangeliums aus.

Noch einmal anders argumentiert der heutige Predigttext. Er findet sich in einem Brief des Neuen Testaments, der nicht von Paulus stammt. Im Hebräerbrief. Dort heißt es im 9. Kapitel:

Und darum ist er auch der Mittler des neuen Bundes, auf dass durch seinen Tod, der geschehen ist zur Erlösung von den Übertretungen unter dem ersten Bund, die Berufenen das verheißene ewige Erbe empfangen. (…) Nun aber, am Ende der Zeiten, ist er ein für alle Mal erschienen, um durch sein eigenes Opfer die Sünde aufzuheben. Und wie den Menschen bestimmt ist, einmal zu sterben, danach aber das Gericht: so ist auch Christus einmal geopfert worden, die Sünden vieler wegzunehmen; zum zweiten Mal erscheint er nicht der Sünde wegen, sondern zur Rettung derer, die ihn erwarten.

Ein für alle Mal. Keine weiteren Opfer mehr. Kein weiteres Leiden mehr auf dieser Erde. So hätten wir es vermutlich alle gern. So müsste es für immer sein. Was ein für alle Mal erledigt ist, davor haben wir endgültig Ruhe. Das nimmt uns nicht mehr in Beschlag. Ein für alle Mal - da gibt es nichts mehr nachzubessern. Und auszuhalten. Da hat das, was ist, Bestand. Eben ein für alle Mal.

Klare und eindeutige Worte sind das. Worte, die ein für alle Mal klarlegen, worum es geht am Karfreitag. Das Vorbild für das Verständnis Christi im Hebräerbrief, das ist der jüdische Tempelkult. Nur einmal im Jahr durfte der Hohepriester das Allerheiligste im Tempel betreten. Und auch nur er allein. Das alljährliche Versöhnungsfest Yom Kippur hat den Sinn, Gott ein ganz besonderes, einmaliges Opfer zu bringen. Das Versöhnungsfest markiert einen Neuanfang. Was war, ist vergeben. Das Leben kann gewissermaßen ganz neu beginnen.

Dieses einzigartige Opfer sei nur ein Schatten des Opfers, das Christus gebracht hat, so lesen wir es im Hebräerbrief immer wieder. Nicht nur an dieser Stelle. Christi Tod sei das endgültige, unüberbietbare Opfer. Es bedürfe keiner Wiederholung. Es gilt eben ein für alle Mal.

Was theologisch richtig sein mag, ist eben noch lange nicht für alle Menschen plausibel. Und schon gar nicht allgemeinverständlich. Der Opfergedanke, so wie die Menschen ihn damals verstanden haben, ist für uns nicht mehr so einfach nachvollziehbar. Allein schon deswegen, weil wir das Wissen um die Opferpraxis und die Opfertheologie zur Zeit Jesu nicht mehr als gegeben voraussetzen können. Der befreiende Sinn dieser Opfer ist uns verloren gegangen.

Das Opfer, von dem der Hebräerbrief spricht, hat eine andere Perspektive. Es eröffnet Zukunft. Es ist Sinn stiftend. Was geschehen ist an diesem ersten Karfreitag - was uns zugesagt wird für das Ende der Zeiten, die noch kommen, das umschreibt der Schreiber des Hebräerbriefes mit dem Ausdruck Heil. Natürlich ist auch mit diesem Wort schon viel Schindluder getrieben worden. Und vielleicht wäre es deshalb besser, einfach vom Glück zu sprechen. Am Ende kommt es Gott darauf an, dass wir glücklich werden. Diese Zusage lässt uns am Ende sogar den Karfreitag aushalten.

Es gäbe viele Gründe, dem Opferbegriff den Abschied zu geben. Und dabei womöglich zugleich den dranzugeben, dessen Tod heute im Zentrum steht. Denn es gibt einen einzigen entscheidenden Grund, der genau dies verbietet. Ein für alle Mal. Die Verbindung mit unseren Schwestern und Brüdern im jüdischen Glauben. Ihre Religion ist die Mutterreligion der unsrigen. Es ist das Opferverständnis ihrer Mütter und Väter, das der Schreiber des Hebräerbriefes auf diesen Jesus aus Nazareth anwendet. Es ist ihr Opferverständnis, das Christinnen und Christen der ersten Jahrhunderte auf den Karfreitag und diesen Toten am Kreuz beziehen.

Die Deutung dürfen wir nicht drangeben. Aber zugleich suchen wir nach Worten, die dieses Opfer für uns deuten. Und die den Karfreitag - nein, nicht erträglich machen, das geht nicht. Nach Worten suchen wir, die uns aus diesem Tag Hoffnung gewinnen lassen. Die Hoffnung des Evangelisten Johannes, dass es vollbracht ist. Die Hoffnung der Frauen am Ostermorgen am leeren Grab: Er ist nicht hier. Er ist auferstanden.

Wenn ich von meinem Glauben rede, ist es immer mehr ein suchendes Stammeln als ein unterhinterfragtes So ist es! Leben in Vorleistung - so habe ich vorhin schon den Sinn des Wortes opfern in unseren Glauben ziehen wollen.

Stellvertretend handeln sagen andere. Handeln für andere. In einem Akt der Hingabe. Im Handeln aus Liebe. Im Eintreten für die, denen die Kraft dazu fehlt. Oder in den Untiefen ihres Lebens abhandengekommen ist. Wo wir nur noch Scherben sehen, da sieht Gott das Ganze. Wo wir das Ende beklagen, da lässt uns Gott zu einem neuen Anfang finden. In der Ansage einer Zukunft, die uns Freiheit und Leben zusagt.

Gott ist kein Gott, der das Leid anderer braucht, der einen anderen drangibt, opfert, um dem Recht zum Durchbruch zu verhelfen. Nein! Gott will diesem Leid, dieser Kette ununterbrochenen Unrechts ein Ende bereiten. Gott ist einer, der dazwischen geht. Der das Risiko nicht scheut. Der nicht einmal dem Tod aus dem Weg geht. Ihm aber das letzte Wort nicht überlässt.

Gott macht allen Opfern ein Ende! Ein für alle Mal. Indem er handelt am Ostermorgen. Indem er den ins Recht setzt, den andere geopfert und zu Unrecht verlacht und verhöhnt haben. Den, den andere zu Tode gebracht haben, weil sie sich auf der sicheren Seite wähnten.

Gott handelt am Ostermorgen! Deshalb können wir sicher sein: Gott hält sich auch am Karfreitag nicht schadlos. Gott bringt sich nicht in Sicherheit. Wo wir Gottes Abwesenheit am stärksten beklagen, gerade da ist er zu finden. Im Opfer von Arnauld Beltrame vor einer Woche. In den vielen Opfern von Krieg und Gewalt jeden Tag. Auch heute. Im Opfer des einen mit seinem radikalen Glauben an Gott. Der Menschen am Rande der Gesellschaft ins Licht gerückt hat. Der die Armen seliggesprochen und die Reichen kritisiert hat. Im Opfer des einen, der den Mächtigen seiner Zeit im Weg gestanden ist. So sehr, dass sie ihn am Ende aus der Welt schaffen wollten. Und der ihnen immer neu im Weg steht.

Das Leben dieses einen, der seines am Karfreitag dran gibt - für mich ist es das beste Beispiel eines Lebens in Vorleistung. Eines Lebens, in dem einer sich für die anderen opfert. Eines Lebens, an dem Menschen sich bis heute orientieren. Im Opfer des einen am Karfreitag gilt: Gott ist in diesem Opfer mittendrin. Mitten der Welt. Mitten unter den Menschen. Mensch geworden ist Gott an unserer Seite. Tritt an die Stelle des einen - damals. Tritt an unsere Stelle. Damit wir den Karfreitag aushalten können.

Es gibt eine dritte Form, mit dem Karfreitag fertig zu werden. Es ist vielleicht die eindrücklichste überhaupt. Es ist der Weg, diesen Tag singend zu bewältigen. Choräle gehören zur Tradition unserer evangelischen Kirche seit den Tagen der Reformation. Passionschoräle allemal! Ich lade sie ein, in diese Tradition einzustimmen. Damit wir uns schon jetzt vom Licht des Ostermorgens bescheinen lassen.

Nein! Keine Opfer mehr. Ein für alle Mal. Darauf hoffen wir. Und das feiern wir. Das lässt uns singen! Nicht nur am Karfreitag! Amen.

Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.