PREDIGT ÃœBER 1. TiMOTHEUS 1,12-17
GOTTESDIENST ZUM ABSCHLUSS DER WOCHE DER DIAKONIE 2019
IN DER STIFTSKIRCHE IN WERTHEIM

07.07.2019
Liebe Gemeinde!

Unerhört! Diese Alltagshelden! Das war das Motto dieser zu Ende gehenden Woche der Diakonie 2019. Und natürlich freue ich mich, dass ich diesen Gottesdienst zum Abschluss dieser Woche der Diakonie heute mit ihnen hier in der Stiftskirche in Wertheim mitfeiern und in diesem Gottesdienst predigen kann. Für das Diakonische Werk wird ja auch Herr Pfarre Erbacher noch zu ihnen sprechen.

Sie hat viele Menschen begeistert. Und viele haben ihr höchste Achtung gezollt – dieser mutigen Frau, die ihr Schiff, die Sea-Watch 3, einfach in den Hafen von Lampedusa gesteuert hat. Sie hat getan, was die Menschlichkeit von ihr verlangt hat, sie hat getan, was für sie dran war, um das Leben von 40 Flüchtlingen zu retten.

Carola Rackete ist für viele so etwas, wie eine Alltagsheldin. Eine mutige Frau, die nicht umsonst zur Kapitänin gebracht hat. Sie versteht nicht nur, den Schiffskompass zu lesen. Sie hat auch einen ausgeprägten inneren Kompass, der ihrem Leben die rechte Richtung vorgegeben hat. Sie hat sich der Aufgabe gestellt, die ihr im Leben zugefallen ist.

Was ist meine Aufgabe im Leben? Wozu bin ich beauftragt? Wozu bin ich berufen? Was ist mein Amt? Das frage ich mich manchmal, wenn ich, wie so oft, entdecke, was es in dieser Welt zu tun gibt. Und wenn ich mich frage: Geht mich das etwas an? Bin ich hier zuständig?

Was darf ich getrost anderen überlassen? Das frage ich mich manchmal auch, wenn ich sehe: Da gibt es Aufgaben, da gibt es Dinge, die es anzupacken gilt, da gibt es Herausforderungen, die unübersehbar sind. Nur: Sie überfordern meine zeitlichen Möglichkeiten. Oder sie überfordern meine Kräfte. Ich kann nicht alle Probleme der Welt auf meine Schultern packen.

Wenn ich dann etwas genauer hinschaue, dann entdecke ich: Manches gehört zu meinem Beruf, zu meinem Amt als Pfarrer und Prälat, zu meinen Aufgaben, die ich in der Diakonie und im Diakonischen Werk übernommen habe - aber auch da mit einem begrenzten Zeitbudget. Anderes gehört zu meinen menschlichen Pflichten, es gehört zu den Verantwortlichkeiten eines Bürgers in unserem Gemeinwesen. Es gehört zu den Grundaufgaben des Menschseins, die den Blick immer auch auf die anderen richtet.

Im Verlaufe eines Lebens ändert sich hier manchmal auch die Wertigkeiten, die Rangfolgen der Themen und die Perspektiven. Einer, dem dies auch so ergangen ist, das ist Paulus. Er war immer einer, der das, was ihm vor die Füße gefallen ist, mutig aufgegriffen und mit allem Einsatz verfolgt hat. Und mitten im Leben hat er sein Ruder herumgerissen – oder es ist ihm aus der Hand gerissen worden. Und diese Kehrtwende hat sein Lebensthema, seinen Lebensweg geradezu auf den Kopf gestellt.

Der Predigttext für diesen 3. Sonntag nach Trinitatis geht dieser Schwerpunktsetzung im Leben des Paulus nach. Wir wissen heute, dass Paulus diesen Text gar nicht selber geschrieben hat. Aber ein Christ, der eine Generation später als Paulus gelebt hat, gibt uns mit diesem Brief Anteil an diesem Nachdenken des Paulus über sein Leben.

Wir hören Verse aus dem 1. Kapitel des 1. Timotheusbriefes. Da schreibt ein uns unbekannter Christ gegen Ende des 1. Jahrhunderts nach Christus im Namen des Paulus:



Ich danke unserm Herrn Christus Jesus, der mich stark gemacht und für treu erachtet hat und in das Amt eingesetzt, mich, der ich früher ein Lästerer und ein Verfolger und ein Frevler war; aber mir ist Barmherzigkeit widerfahren, denn ich habe es unwissend getan, im Unglauben. Es ist aber desto reicher geworden die Gnade unseres Herrn samt dem Glauben und der Liebe, die in Christus Jesus ist.

Das ist gewisslich wahr und ein teuer wertes Wort: Christus Jesus ist in die Welt gekommen, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der erste bin. Aber darum ist mir Barmherzigkeit widerfahren, dass Christus Jesus an mir als Erstem alle Geduld erweise, zum Vorbild denen, die an ihn glauben sollten zum ewigen Leben. Aber Gott, dem ewigen König, dem Unvergänglichen und Unsichtbaren, der allein Gott ist, sei Ehre und Preis in Ewigkeit! Amen.


Das Lied von den Alltagshelden:
Wir singen die Strophen 1 und 2:

Was ist der Mensch, o Gott?
Stellt Sehnsucht oder Spott
mir diese Frage?
Wer bin ich in der Welt?
Was gibt mir Grund und hält
des Lebens Waage?

Nicht grenzenlos, doch frei
willst du mich, dass ich sei
dein Bild des Lebens.
Was mir an Plänen reift,
wonach mein Denken greift,
sei nicht vergebens.


Paulus – ist er Amtsträger oder Alltagsheld? Wenn Paulus heute hier wäre, seine Antwort wäre klar. Und sie käme ohne Zögern: Er versteht sich als Amtsträger. Das gilt schon, als er sich im pharisäisch geprägten jüdischen Glauben theologisch ausbilden lässt. Und es gilt noch mehr, als es in einem Leben eine 180-Grad-Wende vollzieht.

Paulus fühlt sich vom auferstandenen Christus selber eingesetzt. Der Himmelsblitz, der ihn trifft, mitten im Leben, sein Sturz vom Pferd vor Damaskus hat seine Blickrichtung verändert, nicht aber seine Lebensaufgabe, sich für diesen Gott einzusetzen. Einen Eiferer für den Glauben nennt er sich darum auch selber.

Er tut, was seines Amtes ist. Und er reklamiert für sich das Amt eines Apostels, auch wenn er nicht wie die Jünger mit diesem Jesus durch Galiläa und von da nach Jerusalem gezogen ist. Paulus hat nach eigenem Verständnis eine Lebensaufgabe übernommen. Und für die tritt er ein. Bisweilen kompromisslos. Aber auf alle Fälle mit Nachdruck. Und nicht ohne immer wieder sein Leben zu gefährden.

Es gibt unterschiedliche Weisen, sein Leben im Sinne der Übernahme eines Amtes zu interpretieren, vor allem, wenn dieses Amt nicht nur den eigenen Lebensunterhalt sichern, sondern vor allem anderen Menschen dienlich sein soll. Ein Amt bekommt man in der Regel ja verliehen. Zugesprochen. Man übt es aus im Namen einer Institution. Ich kann mir ein Amt nicht einfach selber nehmen.

Auch wenn es unterschiedliche Arten von Ämtern gibt: Es gibt kaum eines, in dem diejenigen, die ein Amt innerhaben, nicht in eine Verantwortung gestellt sind, die über die reine Funktion dieses Amtes weit hinausgeht. Bei denen, die wie ich ein Pfarramt innehaben, legt sich der Weg, das Amt lebensdienlich auszuüben, durchaus nahe. Es macht gewissermaßen den Sinn dieses Amtes aus.

Nicht anders ist es mit den Menschen, die ihre Ämter im Rahmen der Diakonie ausüben. Sie haben Menschen im Blick, die in welcher Weise auch immer, auf Unterstützung angewiesen sind. Auch die Kapitänin der Sea-Watch 3 hat ein Amt. Aber sie hat ein Verständnis dieses Amtes entwickelt, das nicht in erster Linie die Rettung ihres Schiffes im Blick hatte. Ihr Amt, so wie sie es verstanden hat, wies sie an, der Unversehrtheit des Lebens ihrer Passagiere die oberste Priorität einzuräumen.

Übrigens: Auch Ehrenämter sind Ämter. Und wer dem Vorstand eines Vereins angehört oder gar selber der oder die Person im Vorsitzendenamt ist, hat mehr Spielraum, mehr Möglichkeiten, als den Regularien des Vereinsrechts zu entsprechen. Einen Verein zu öffnen für Menschen, die psychische Probleme haben, für Menschen, die nie eine Vereinsmeisterschaft würden gewinnen können, für Menschen, die eine andere Hautfarbe haben und ein anderes Lebenskonzept, für Menschen, die hier nach der Erfahrung von Gewalt in ihrem Herkunftsland und nach abenteuerlicher Flucht neu Heimat suchen – das macht ein Amt plötzlich zu einem, bei dem am Ende der liebe Gott im Spiel ist.

Das Lied von den Alltagshelden:
Wir singen die Strophen 3 und 4:

Gott gibt uns Amt und Macht
und lässt uns mit Bedacht
die Welt gestalten.
Wo Willkür herrscht und Not,
da lautet das Gebot:
Recht soll neu walten!

Setz mutig deinen Schritt,
dass niemand aus dem Tritt
dich bringt und hindert,
was Zukunft schenkt der Welt.
In Gottes Lebenszelt
manch‘ Schmerz sich lindert.


War Paulus auch ein Alltagsheld? Nach eigenem Verständnis sicher nicht. Darauf habe ich eben schon hingewiesen. Aber im Blick auf die eigene Person sollte man sich nicht selber das Urteil sprechen. Was ist denn ein Held? Haben wir von Helden und Heldischem nicht genug in diesem Land?

Darauf zunächst ein eindeutiges Ja! Ich hab‘s nicht mit Helden. Und die Zeit der Nibelungen mit ihrem Sigfried ist vorbei. Die des nationalen Heldentums gottseidank auch. Auch wenn manche gerade davon wieder träumen – Gott sei’s geklagt.

Ein Alltagsheld – eine Alltagsheldin ist etwas anderes. Damit sind Menschen gemeint, die ihrem Leben eine klare Ausrichtung geben. Die Ausrichtung auf ihre Mitmenschen. Alltagshelden, Alltagsheldinnen, das sind Menschen, die Mut beweisen und Zivilcourage. Die den Mund aufmachen und sich in den Weg stellen. Die anderen auch einmal den Mund verbieten, wenn diese andere Menschen klein machen und sie verunglimpfen.

Alltagshelden, Alltagsheldinnen tun das nicht, weil das zu ihrem Beruf gehört. Weil sie einen Vorteil daraus ziehen. Oder weil sie dafür öffentliche Anerkennung erhoffen. Sie tun das, weil sie nicht anders können. Weil der Kompass ihres Lebens ihnen diese Richtung vorgibt. Weil ihnen ihr Menschsein keine andere Möglichkeit lässt. Und sie tun dies in den allermeisten Fällen abseits jeder Öffentlichkeit. Siehandeln als Alltagsgeld oder als Alltagsheldin, weil sie schlicht nicht anders können.

Ihr Heldentum verbirgt sich in ihren ganz normalen Lebensvollzügen. Ich könnte auch sagen, in ihrer ganz normalen, unspektakulären Weise, Mensch, Mitmensch zu sein. Dass Alltagsheldinnen, Alltagshelden es in unser Blickfeld schaffen, gar in die Medien, das ist eher die Ausnahme. Aber wenn es dann so ist, auch ein Beispiel, das andere Menschen anspornt und beflügelt. Kein Wunder, dass der Predigttext davon spricht, dass Jesus Christus ein Beispiel gegeben hat. Paulus weiß: Besser als jeder Versuch, andere mit Argumenten zu gewinnen, ist das glaubwürdige, das überzeugende Beispiel.

Ehrlich gesagt: Deshalb glaube ich, dass auch Paulus sehr wohl auch ein Alltagsheld ist. Und nicht nur ein Apostel mit einem großen Amt. So oft nennt er Namen von Menschen, die nicht zu den Oberen Zehntausend der damaligen Gesellschaft gehören. Paulus kennt sich aus. Er weiß, was Menschen brauchen. Er trifft sie in den Synagogen und in den Hausgemeinden. Er sorgt sich um das Auskommen der Christinnen und Christen in Jerusalem und organsiert eine großangelegte Spendenaktion. Er baut Kontakte zu seinen Gefängniswärtern auf.

Ich bin sicher, Paulus ist – auch! – ein Alltagsheld. Und dass das meiste, das er anderen Menschen zugut tut, sich in seinen Briefen gar nicht niederschlägt – das liegt eben genau in der Natur des Handelns der Alltagshelden.

Jetzt bleibt nur noch die Frage, wie es um unser Alltagsheldentum bestellt ist. Davor aber singen wir die fünfte Strophe des Liedes.

Das Lied von den Alltagshelden:
Wir singen die Strophe 5:

Gott rettet und bewahrt,
hat für mich aufgespart,
was stärkt und nähret.
Gemeinsam finden wir
den Weg, der mir und dir
Schalom gewähret.


An Alltagsheldinnen und Alltaghelden gibt es keinen Mangel. In Wertheim nicht. In der badischen Landeskirche nicht. In der Diakonie nicht. Und doch haben wir noch lange nicht genug von ihnen. Ich frage also: Sind sie ein Alltagsheld? Oder sie? Oder bin ich einer?

Ich weiß es nicht. Aber ich bin mir ganz sicher: Hier sitzen heute Vormittag viele Alltagshelden und Alltagsheldinnen im Gottesdienst. Menschen, die sich über Gebühr eigesetzt haben, als über Nacht Menschen auf der Flucht unterzubringen waren. Und die sich kümmern. Bis heute. Menschen, die ihre kranke Mutter oder ihren alten Vater pflegen. Menschen, die einem Kind mit Einschränkungen zu einem Leben in Würde verhelfen.

Menschen, die rechtsgerichtetem Gerede widerstehen. Und die sich schützend vor einen Menschen stellen, dem andere gerade ihre Würde nehmen wollen. Im Bus. Auf dem Marktplatz. In der Schlange in der Agentur für Arbeit. Auch am Stammtisch.

Wie gut, dass wir diese Heldinnen und Helden des Alltags haben. Und dass diese Opferwoche sie einmal ausdrücklich in den Blick rückt. Wie gut, dass die Bibel voller Beispiele ist. Und die Zeitung zum Glück auch. Wie gut, dass Paulus uns hier Mut macht. Durch sein Beispiel. Und durch das, was der Schreiber des Timotheusbriefes uns - durchaus im Sinn des Paulus - zu lesen und zu verstehen gibt.

Ob diese Helden unerhört sind, wie es im Titel der Opferwoche heißt – ich weiß es nicht. Ungehört und ungesehen sind sie jedenfalls nicht. Oder nicht mehr. Wir haben sie im Blick. Und ich weiß genau: Sie, du, ich: Wir wollen dazugehören. Und die Welt ein klein wenige besser machen. Und gerechter. Nicht allein. Sondern mit Gottes Hilfe. Und unter seinem Segen.

Übrigens: Manchmal macht schon ein kleines Gebet den Alltagshelden aus. Oder der Hinweis, dass Gott diese Welt nicht einfach denen preisgibt, die nichts Gutes mit ihr im Sinn haben. Oder es genügt eine kleine Umarmung bei einem Menschen, der so spürt: Ich gehöre dazu.

Es ist kein weiter Weg, ein Alltagsheld, eine Alltagsheldin zu werden. Aber lohnend ist er allemal. Amen.

Das Lied von den Alltagshelden:
Wir singen die Strophen 6 und 7:

Es reicht, ein Mensch zu sein.
Was fehlt, lässt von allein
Gott in mich fallen
und schenkt, was mir gelingt,
und mich zum Singen bringt,
im Segen allen.

Ergreif dein Leben nur,
geh weiter in der Spur
ein Mensch zu werden.
Zum Bild, das Gott in mir
erschaffen, wird‘ ich dir:
neu Mensch auf Erden!


Traugott Schächtele
Twitter: @tschaechtele
Zeitgenosse, Pfarrer, Prälat, Ehemann, Vater von 5 erwachsenen Kindern, liest und schreibt gern.